
„Es hat sich ausgezoomt“
Seit das Coronavirus im Frühjahr 2020 auch Deutschland erreichte, ist es als Thema omnipräsent und erfasst inzwischen beinahe alle Bereiche unseres Alltags. Was bedeutet die Pandemie für KünstlerInnen, SchriftstellerInnen und andere Kulturschaffende, deren Erzählungen uns normalerweise dabei helfen, unsere Gegenwart zu fassen? Werden demnächst nur noch Romane, Theaterstücke und Gedichte veröffentlicht, in denen es um die Auswirkungen des Virus geht, wie bereits erste Beispiele erahnen lassen? Wo verortet die Literatur sich angesichts eines Themas, das bis in die intimsten Winkel unseres Lebens eingedrungen ist? Über diese und weitere Fragen diskutierten bei der Veranstaltung „Schreiben nach Corona“ im Berliner Literaturforum im Brecht-Haus einflussreiche Stimmen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.
Es ist ein sommerlicher Abend im Hof des Brecht-Hauses, wo mit dem derzeit gebotenen Abstand und unter freiem Himmel die AutorInnen Kathrin Röggla, Julia Schoch, Yōko Tawada und David Wagner zu Wort kommen. Für sie alle hat das Virus sowohl auf beruflicher als auch auf privater Ebene bereits tiefgreifende Konsequenzen gehabt. Der Literaturbetrieb hat sich mit Beginn des Lockdowns und auch danach grundlegend verändert: Digitale Lesungen stehen an der Tagesordnung und Veranstaltungen in Anwesenheit von Publikum und AutorIn unterliegen strengen Hygienemaßnahmen. Wie kann in diesem Zustand Austausch stattfinden und was hat die Situation für ästhetische und praktische Auswirkungen auf das Schreiben der versammelten AutorInnen? In der zweigeteilten Podiumsdiskussion, die von der Literaturwissenschaftlerin Elke Brüns moderiert wird, spricht zunächst die Autorin Julia Schoch mit der Prosa- und Theaterautorin Kathrin Röggla. Anschließend gehen die japanische Schriftstellerin Yōko Tawada und David Wagner zu den Themenschwerpunkten ins Gespräch und präsentieren aktuelle Texte, die im Verlauf der Pandemie entstanden sind.
Literatur als Zeitkunst
Julia Schoch möchte am liebsten vermeiden, dass die Pandemie in ihre Bücher einfließt, sie könnte sie höchstens als eine Art Hintergrundrauschen tolerieren. Für Schoch ist die Literatur den aktuellen Ereignissen entweder hinterher oder meilenweit voraus und sie selbst könne gar nicht so schnell schreiben, wie die Dinge sich entwickeln. Auch Kathrin Röggla hält fest, dass bereits erschienene „Corona-Literatur“ schon wieder veraltet ist und sie mit dem derzeitigen Tempo des Diskurses nicht Schritt halten kann. Auch wenn ihre eigenen Prosatexte und Theaterstücke von der Gegenwart erzählen, erklärt sie: „Literatur muss sich darauf besinnen, eine Zeitkunst zu sein.“ Eine Absage an einen Gestus des „Jetzt“ sieht sie jedoch nicht im Widerspruch zu einem Schreiben, das sich grundsätzlich der Gegenwart verpflichtet. Laut Röggla ist die Literatur eine mehrspurige Zeitkunst, die sich nicht aus der Aktualität speisen muss, es aber durchaus kann. Von „Corona-Literatur“, beispielsweise im Sinne des in der WELT online publizierten autofiktionalen Corona-Fortsetzungsromans von Thomas Glavinic, nehmen die beiden Autorinnen Abstand. Während sich Schoch und Röggla also darauf einigen können, sich selbst keineswegs als Chronistinnen der Pandemie zu verstehen, betrachtet Röggla das Corona-Virus jedoch nicht als ein für sich stehendes Thema. Für sie ist die Pandemie über ihre Auswirkungen mit der Gegenwart verwoben, weshalb sich auch die Literatur an den aktuell hervorgebrachten Diskursen abarbeiten müsse.
v.l.n.r.: Julia Schoch, Elke Brüns und Kathrin Röggla © Literaturforum im Brecht-Haus
Corona-Schreibstrategien
Nach einer hitzigen Debatte zwischen Schoch und Röggla, wird es in der zweiten Hälfte der insgesamt anderthalbstündigen Podiumsdiskussion konkreter: Moderatorin Elke Brüns befragt David Wagner und Yōko Tawada nach Veränderungen in ihrem jeweiligen Schreibprozess und nach literarischen Strategien, die sie während der Pandemie entwickelt haben. Tawada diagnostiziert an sich und ihrer Arbeit zunächst eher negative Folgen: „Ich wurde asozial, unverständlich, egoistisch und langatmig.“ Der Wechsel von einer reisenden zu einer isolierten Schriftstellerin fiel ihr schwer. Normalerweise ist sie auf der ganzen Welt unterwegs, um ihrer Literatur Gehör zu verschaffen. Ihre aktuelle Situation verarbeitet sie nun in Gedichten, von denen sie eins vorträgt. Dort heißt es: „Ich streiche oft Wörter aus meinem Manuskript, aber es war mir neu aus dem Terminkalender Ortsnamen auszustreichen.“
David Wagner hingegen greift auf eine seiner Figuren zurück, um die Pandemie literarisch zu bearbeiten. Er „unterhält“ sich einfach weiter mit der Titelfigur seines 2019 erschienen Romans, für den Wagner den Bayerischen Buchpreis erhielt: „Der vergessliche Riese“. „Die Figur bleibt so ein bisschen bei mir. Ich habe da eine Dialogsituation gefunden, mit der ich Probleme behandeln kann und die Pandemie […] war plötzlich ein großes Thema“, erklärt er. Bei dem Riesen handelt es sich um einen an Demenz erkrankten Vater, dem sein Sohn nun während der Corona-Pandemie in regelmäßigen Telefonaten die aktuelle Situation immer wieder erklären muss. Während Wagner Auszüge aus seiner autobiografisch geprägten Erzählung liest, merkt man deutlich, wie die Dialogsituation ihm den Weg ebnet, die Pandemie emotional und ästhetisch zu verarbeiten. Während Tawada und Wagner neue Schreibstrategien entwickelt haben, sind auch im Literatur- und Kulturbetrieb notgedrungen zahlreiche neue Formate entstanden, die im Laufe des Abends zur Sprache kommen. Auf dem Podium ist man sich einig, dass Online-Lesungen niemals die Funktion von Lesungen, Lesereisen oder persönlichen Diskussionen ersetzen können. Tawada bringt es auf den Punkt: „Es hat sich ausgezoomt.“ Trotz der digitalen Angebote fehle der Autorin der analoge Austausch. Möglicherweise zeigt sich an diesem Aspekt aber auch, dass die geladenen AutorInnen allesamt einer Generation angehören, die weitgehend ohne digitale Kommunikation aufgewachsen ist, und dementsprechend womöglich einer Chat-Lecture weniger abgewinnen können als jüngere KollegInnen.
Finanzielle Dimension
Bei allem Interesse für das literarische Selbstverständnis und neue ästhetische Strategien: Nicht zuletzt stellt die Corona-Krise den Literaturbetrieb und besonders die AutorInnen auch vor massive finanzielle Probleme: „Wir sind dann eben doch Schauspieler unserer Kunst und das muss man ehrlich sagen: Von allen, mit denen wir heute sprechen, lebt keiner allein von seinen Buchverkäufen“, lautet David Wagners ehrliches Resümee. Besonders die finanzielle Absicherung von SchriftstellerInnen sei auf lange Sicht bedroht, da man für Online-Lesungen kaum Geld bekomme und während der Pandemie eher Klassiker gelesen werden anstelle von Gegenwartsliteratur, sagt Wagner. Anders als die übrigen Gäste kommuniziert er dem Publikum deutlich, dass es so nicht weitergehen kann. Für den Kulturbetrieb und besonders für SchriftstellerInnen und LeserInnen bleibt zu hoffen, dass es bald wieder mehr Gelegenheiten für den analogen Austausch gibt. Die Diskussion hat jedenfalls veranschaulicht, dass es die Gegenwartsliteratur seit Corona mit einer ziemlich anderen Gegenwart zu tun hat. Was sie daraus machen wird, bleibt abzuwarten. Die Frage nach einem „Schreiben nach Corona“ befördert indes viele Aspekte ins Blickfeld, die sowohl während der Pandemie als auch danach der Beobachtung und Diskussion bedürfen.
Headerbild © Literaturforum im Brecht-Haus
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Das Literaturforum im Brecht-Haus hat auf Youtube die vollständige Diskussion zur Verfügung gestellt
Hier geht es zur Website des Literaturforum im Brecht-Haus