Stellwerk Magazin

Traveling Book Project – wandernde Erinnerungen

Vorwort

Seit Beginn der Corona-Pandemie erlebt das Bücherlesen und das freiwillige (oder unfreiwillige) „Mit-Sich-Selbst-Sein“ eine Renaissance. Wo es vorher Veranstaltungen, Konzerte, Ausstellungen und Lesungen vor Ort gab, finden Kultur und Kulturdiskussion nun vermehrt digital statt. Der Buchclub Traveling Book Project auf der Internetplattform Goodreads hat einen etwas anderen Ansatz. Die Mitglieder koordinieren sich zwar im Netz miteinander, aber der Austausch über die Bücher findet doch weitestgehend analog statt – und das ganz ohne Treffen. Wie das funktioniert, erzählen Clubmitglied Jenni Wilken und Moderatorin Anni Jonas.

© Annika Jonas © Annika Jonas

Das Traveling Book Project entstand 2015 auf der Internetplattform Goodreads. Auf dieser Website mit über 90 Millionen registrierten NutzerInnen weltweit tauschen sich BücherliebhaberInnen über ihre Lese-Eindrücke aus. 2007 wurde Goodreads von dem Ehepaar Otis und Elizabeth Chandler in San Francisco gegründet – 2013 wurde die Seite von Amazon gekauft; damit gehört dem Internet-Riesen eines der wichtigsten Buchrezensionsforen im Netz. In der Datenbank können Romane, Rezensionen, Zitate und AutorInnen gefunden, geliked und abonniert werden. Registrierte Mitglieder schreiben selbst Rezensionen, legen eine Liste mit Lesewünschen und bereits gelesenen Büchern an oder treten verschiedenen Gruppen bei. So wie Anni. Als sie Ende 2015 dem Traveling Book Project Germany beitrat, gab es gerade einmal 15 Mitglieder. Inzwischen sind es 64.

Jenni ist eher zufällig auf den Buchclub gestoßen, als sie sich nach Lust und Laune durch die Website klickte: „Im Prinzip sind wir eine Gruppe von Leuten, die sich Bücher hin- und herschicken. Eine Person sucht sich einen Titel aus. Entweder kauft sie ihn oder hat ihn bereits zu Hause. Andere, die Lust auf das Buch haben, können sich melden, dass sie gerne mitlesen möchten. Dann geht das Buch auf die Reise und wird so lange von Person zu Person weitergeschickt, bis es wieder bei seiner Besitzerin angekommen ist.“ Mitmachen kann eigentlich jeder. Man schickt eine Beitrittsanfrage und wird daraufhin von den ModeratorInnen aufgenommen. Die Gruppe besteht aus Menschen jeden Alters und von überall aus Deutschland. Allerdings gebe es schon eine deutliche Mehrheit an Frauen, meint Anni. Der Altersdurchschnitt liege etwa zwischen 20 und 30 Jahren. Anni ist 29 Jahre alt, studierte Biologin und arbeitet als Koordinatorin im Bereich Stammzellenspende in Köln. Sie freut sich, durch den Club Abstand von ihrem Berufsalltag zu haben und außerdem mehr englische Romane lesen zu können, die den Hauptanteil der Wanderbücher ausmachen.

Als Neuling beim Traveling Book Project hat man ein paar „Aufgaben“ zu erledigen: Man verfasst einen kleinen Text über sich, die bevorzugten Büchergenres, warum man der Gruppe beitreten möchte und man muss seine Handynummer angeben. Der Grund ist ganz einfach, erklärt Anni: „Vertrauen ist in der Gruppe ganz wichtig. Mitunter schickt man schließlich seine Bücher an wildfremde Menschen.“ Und über eine Handynummer kann man die Mitglieder auch außerhalb von Goodreads erreichen. „Jedes Mitglied hat drei Monate Zeit, ein Buch zu lesen“, sagt Anni. „Wir Moderatorinnen organisieren das alles über eine Excel-Tabelle, in der steht, wann ein Buch losgeschickt wurde, bei wem es gerade ist und wie lange schon.“ Falls es mal so weit kommt, dass ein Buch den Weg nicht zurück zu seiner Besitzerin oder seinem Besitzer findet, wird es aus einer sogenannten „Solidaritätskasse“ ersetzt.

Die Bücher werden aber nicht einfach nur so herumgeschickt. Alle LeserInnen schreiben Kommentare, kleine Zeichnungen, Smileys und Nachrichten direkt ins Buch; an den Seitenrand, zwischen die Zeilen, überall, wo Platz ist. Es gibt keinen Filter. Reaktionen, Gedanken, manchmal auch einfach nur eine Fülle von Ausrufezeichen finden so ihren Weg auf das Papier. Auf diese Weise finden das Lesen und der Austausch über ein Buch gewissermaßen gleichzeitig statt. Wer einen Kommentar hinterlässt, kommuniziert so automatisch mit den nachfolgenden Lesenden. Jenni findet dieses Konzept besonders spannend: „Dass man ein Buch durch die Welt schickt und es mit den Gedanken von anderen Menschen wiederbekommt, ist großartig.“

Jenni ist 26 Jahre alt und studiert im Master Medienkulturwissenschaften in Köln. Sie interessiert sich sehr für Feminismus und Gender Studies. Auch ihr Liebling aus den vielen Wanderbüchern beschäftigt sich mit diesen Themen: „Beartown“ heißt der Roman des schwedischen Schriftstellers Fredrik Backman. Darin geht es um die Vergewaltigung an einer jungen Frau durch den Star des Junior Eishockey Teams einer Kleinstadt. Die Geschichte sei authentisch und recht düster, findet Jenni. Trotzdem muss sie lachen als sie erzählt, wie sie es kommentiert hat: „Das Verhalten der Jungs aus dem Eishockeyteam hat mich so sehr genervt, dass ich immer ‚Assholes‘ oder ‚Fuck you!‘ an den Rand geschrieben habe. Ich habe mich auch bei der Besitzerin entschuldigt, dass ich so viel in ihr Buch geflucht habe.“ Was die Corona-Pandemie angeht, so habe sich in der Gruppe überhaupt nichts verändert, sagt Anni. Im Gegenteil: Während im Lockdown alles andere drunter und drüber ging, blieb die Gruppe eine Konstante in dieser merkwürdigen Zeit. Es verwundert also nicht, dass der lesende Austausch den Mitgliedern immer wichtiger wurde.

Fest steht, dass die Bücher eine spannende Art der Kommunikation bieten. Ob die impulsiv am Textrand vermerkten Anmerkungen dasselbe leisten, wie beispielsweise ein reges Gespräch über ein Buch, sei dahingestellt. Doch die Kommentare in den Wanderbüchern kann man nicht mit Feuilleton-Rezensionen vergleichen, die ein Werk nach ausgewählten Gesichtspunkten wie Plot, Schreibstil, Angemessenheit des Genres oder Komplexität bewerten. Was seinen Weg auf das bedruckte Papier findet, sind keine ausführlichen Reflexionen des Lesestoffs, sondern spontane Eindrücke und unmittelbare emotionale Reaktionen auf die Erzählung. Hin und wieder zeichnen LeserInnen auch mal bunte Bilder über die gesamte Seite, weil es gerade so schön passt. Die Gruppe erhebt nicht den Anspruch, sich wissenschaftlich über ihre Lektüren auszutauschen. Vielmehr geht es darum, über das jeweilige Buch eine Verbindung zueinander aufzubauen und Spuren zu hinterlassen. Das Buch wird damit zum Medium im doppelten Sinn.

Headerfoto: © Jenni Wilken

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Hier geht es zur Gruppe des Traveling Book Projects Germany auf Goodreads