Stellwerk Magazin

Werdegang des Bösen

Vorwort

Am 19. Mai 2020 erschien im Oetinger-Verlag die deutschsprachige Übersetzung des neuesten Romans von Suzanne Collins: „Die Tribute von Panem X – Das Lied von Vogel und Schlange“ („The Ballad of songbirds and snakes“). Zehn Jahre ist es her, dass das dritte und abschließende Buch ihrer erfolgreichen Panem-Trilogie veröffentlicht wurde, in deren Verlauf die Geschichte der jungen Rebellin Katniss Everdeen erzählt wird.

Die Tribute von Panem X Cover Suzanne Collins: „Die Tribute von Panem X – Das Lied von Vogel und Schlange“ Hamburg: Oetinger Verlag 2020.

Kurzer Rückblick für alle, an denen die Science-Fiction-Reihe bisher vorübergegangen ist: Infolge eines verheerenden Atomkriegs werden die heutigen USA zum dystopischen Staat „Panem“, der in ein wohlhabendes Kapitol und 12 ärmliche Distrikte unterteilt ist. Als Mahnung an die unterdrückten Distrikte werden hier fortan jährlich die sogenannten Hungerspiele in Form eines verstörenden Medienspektakels abgehalten. In diesen treten Kinder und Jugendliche aus den verschiedenen Distrikten gegeneinander zu einem Kampf auf Leben und Tod an. Im Verlauf der Handlung führt die junge Heldin Katniss Everdeen, die selbst als „Tribut“ an den Spielen teilnimmt, die Rebellion gegen das grausame Regime des Kapitols an.

Dann vor knapp einem Jahr die unverhoffte Ankündigung: Ein neues Panem-Buch ist in Arbeit. Doch der neueste Roman der Reihe schließt nicht an die Ereignisse aus dem letzten Teil an, sondern erzählt von einer Zeit, lange bevor Katniss Everdeen zum ersten Mal die Arena betritt. Die Story dreht sich um den jungen Coriolanus, der den Leserinnen und Lesern bereits als Katnissʾ Gegenspieler Präsident Snow vertraut ist. Er ist der skrupellose Diktator von Panem, dem jedes noch so grausames Mittel Recht ist, um seine Macht zu sichern. „Das Lied von Vogel und Schlange“ setzt als Prequel 64 Jahre vor den Ereignissen des ersten Teils ein, zur Zeit der 10. Hungerspiele: Die Spiele gelten hier noch als unbedeutende Nebenerscheinung des Krieges und erinnern kaum an die spektakuläre Großveranstaltung, die in den vorangegangenen Büchern beschrieben wird. Das Kapitol strebt grundlegende Veränderungen an, um die Wirkung auf die ZuschauerInnen zu vergrößern. Der junge Akademie-Schüler Coriolanus Snow ist als einer der ersten Mentoren mitverantwortlich für deren Umsetzung. Dabei besteht seine Aufgabe als Mentor hauptsächlich in der Betreuung und Vermarktung von Lucy Grey, dem weiblichen Tribut aus Distrikt 12. Im Verlauf der Handlung beobachtet man ihn auf seinem Werdegang zu dem bekannten Bösewicht aus der Panem-Reihe.

Schon die ersten drei Bücher schafften es in Deutschland unter die Top 5 der Spiegel-Bestseller-Liste und allein die Verfilmung des ersten Teils spielte weltweit rund 460 Millionen US-Dollar ein. Auch der Erfolg von „Die Tribute von Panem X“ ist unbestreitbar. Der Roman startet beim amerikanischen Verlag Scholastic mit einer beeindruckenden Erstauflage von 2,5 Millionen Exemplaren und das Medienunternehmen Lionsgate kündigte schon Ende letzten Jahres die Aufnahme der Dreharbeiten an der Geschichte um Snow an. Damit reiht sich Collinsʾ Roman in die Reihe großer Erzählungen ein, die sich mit dem Werdegang bekannter Bösewichte beschäftigen. Erst im Oktober vergangen Jahres brachte die Ursprungsgeschichte von Badmans Erzrivalen Joker geschätzte 1,074 Milliarden US-Dollar an den Kinokassen ein und bescherte dem Hauptdarsteller Joaquin Phoenix einen Oscar. Auch auf die weltbekannte „Star-Wars“ Filmreihe folgte Anfang der 2000er eine ganze Prequel-Trilogie, die von Kindheit und Jugend des Superbösewichts Darth Vader alias Anakin Skywalker handelt. Ein jüngeres Beispiel im Serienformat findet sich auf der Streaming-Plattform Netflix: „You – Du wirst mich Lieben“ legt ebenfalls seinen Fokus auf die persönliche Entwicklung einer klassischerweise antagonistischen Figur – in diesem Fall die eines gewalttätigen Stalkers.

Doch warum beschäftigt sich die US-amerikanische Literatur- und Filmlandschaft immer wieder so ausgiebig mit der Entstehung des Bösen im Menschen und ist dabei zudem so erfolgreich? Was fasziniert uns als ZuschauerInnen und LeserInnen am Werdegang einer abgrundtief bösen Figur? Eines haben die geliebten und verhassten Bösewichte gemeinsam: Wir begegnen ihnen als bereits vollendetes Böses, das sich den HeldInnen häufig als deren genaues Gegenstück präsentiert. Ihre Beweggründe und die Auslöser für ihr Handeln und Denken bleiben in der Regel im Dunkeln. Umso reizvoller erscheint schließlich ein Blick hinter die Maske. Zumal sich dieses erzählerische Verfahren bereits als erfolgreiches Rezept erwiesen hat. Genau dem bedient sich Collins in ihrem Prequel und liefert uns die Erlebnisse aus Kindheit und Jugendzeit eines unschuldigen jungen Mannes, die diesen zum grausamen Präsidenten Snow haben werden lassen: Herausstechende Eigenarten der bekannten Figur begegnen uns hier – in der Vergangenheit – in ihrem Ursprung. So stellen beispielsweise die von Snows Großmutter akribisch gepflegten weißen Rosen sein späteres Markenzeichen dar. Traumatische Ereignisse in Distrikt 12 bewirken wiederum seine extreme Abneigung gegen den Spotttölpel, der später zum Symbol der Rebellion wird. Allem voran aber wird den LeserInnen vor Augen geführt, dass auch der junge Coriolanus Snow unter den schweren Folgen des Krieges zu leiden hatte. Die Auswirkungen von Zerstörung und neuer Machtverteilung sind dem Kapitol auch noch 10 Jahre nach dem Krieg anzusehen. Die einst mächtige Familie Snow besitzt, außer ihrem guten Namen, so gut wie nichts mehr und Coriolanus ist dazu angehalten diese finanzielle Schwäche nicht nach außen zu tragen. Verlust, Angst und der indizierte Hass gegen die Rebellen aus den Distrikten machen die Grundhaltung des Teenagers aus.

Die Verwandlung des jungen Coriolanus zu Präsident Snow fasst Collins im Interview mit ihrem Verlag mit dem Vers „The child is father of the man“ („Das Kind ist Vater des Mannes“) aus dem Gedicht „My Heart Leads Up“ von William Wordsworth zusammen. Die Ereignisse während der 10. Hungerspiele werden, gepaart mit Snows kontrollierter Persönlichkeit, keine gute Kombination abgeben, so Collins. Hauptverantwortlich dafür: die Liebe zu einem Mädchen. Genauer gesagt, die Liebe zu der jungen Lucy Grey. Die LeserInnen erleben Coriolanusʾ inneren Disput zwischen Machtstreben und der Sehnsucht nach persönlichem Glück mit und erfahren, wie er die Ereignisse um sich herum wahrnimmt.

Damit bietet „Die Tribute von Panem X – Das Lied von Vogel und Schlange“ Fans einen neuen Blickwinkel auf die Hungerspiele und die Welt von Panem. Wer sich mehr Informationen über die Zeit vor der Staatsgründung oder über den Krieg erhofft, wird enttäuscht. Das Prequel liefert stattdessen Hintergründe zur Entstehung der Spiele, wie man sie in den ersten drei Teilen erlebt hat. Durch die Wahl des Protagonisten kann es stellenweise schwer fallen mit der Figur, deren Gedanken und Gefühle man verfolgt, zu sympathisieren. Aber gerade die stille Auseinandersetzung, die man mit dem jungen Coriolanus führt, bietet eine ungewohnte und sehr spannende Leseerfahrung. Neben Snow sind zudem weitere bekannte Figuren vertreten, auf deren Vergangenheit das Prequel hinweist; darunter finden sich einige überraschende Verbindungen. Wer also noch nicht genug hat von der geheimnisvollen Panem-Welt und mehr über die Zeit vor Katniss erfahren will, der sollte Collinsʾ neuesten Roman nicht verpassen.

Headerfoto: © Jessica Steffens