Stellwerk Magazin

Die Suche nach der zweiten Hälfte

Vorwort

Eines Tages ist es Jana genug: Sie will endlich wissen, wer ihr biologischer Vater ist. Deshalb begibt sie sich für eine Woche auf das Donaukreuzfahrtschiff MS Mozart, auf der er als Kapitän arbeitet. Wie es ist erst mit 24 Jahren den eigenen Vater kennenzulernen, erzählt Ilona Hartmann in ihrem Debütroman „Land in Sicht“, der im Juli im Aufbau Verlag erschien. Eine gewisse Aufmerksamkeit war der Erstlingsautorin durch ihre Bekanntheit und hohe Reichweite auf Twitter (14.000 Follower) und Instagram (33.000 Follower) sicher: „buchschreiben war geil kennt jemand weitere coole wege in die altersarmut“ fragt Hartmann alias „zirkuspony“ am 17. September ihre Community auf Twitter – der Sarkasmus und die Ironie ihrer Posts begegnen uns auch in ihrem Roman.

Ilona Hartmann © Svenja Trierscheid Ilona Hartmann alias „zirkuspony“ © Svenja Trierscheid

Damit ein Mensch entstehen kann, braucht es zwei Komponenten: eine weibliche Eizelle und einen männlichen Samen. Das klassisch-konservative Rollenkonzept einer Familie sieht diese beiden Teile – Mutter und Vater – auch im weiteren Verlauf der Entwicklung eines Kindes als essenziell an. Doch die Realität sieht anders aus: Scheidungsfamilien, alleinerziehende Mütter und Väter, gleichgeschlechtliche Elternpaare. Etwa 20 Prozent der Kinder in Deutschland wachsen ohne Vater auf. Was für Auswirkungen hat die Abwesenheit eines Elternteils für die Entwicklung der Identität eines Menschen? „Für immer nur halb – halb Ich, halb da, halb am Leben“,1Hartmann, Ilona: Land in Sicht. Berlin: Aufbau Verlag 2020. S.22. beschreibt die Protagonistin Jana diesen Zustand in Ilona Hartmanns Debütroman. Die Autorin arbeitet in dem Buch ihre eigene Geschichte auf, denn auch sie lernte ihren Vater erst im Alter von 24 kennen. Der Roman ist, wie sie im Gespräch mit Deutschlandfunk Kultur sagt, eine Möglichkeit gewesen, sich selbst und ihre Identität besser zu verstehen.2https://www.deutschlandfunkkultur.de/ilona-hartmann-land-in-sicht-auf-der-suche-nach-dem.1270.de.html?dram:article_id=481916

Auf dem Buchdeckel beschreibt ein Zitat von Zeit -Journalist Christoph Amend „Land in Sicht“ als ein leichtes Sommerbuch. Die Thematik scheint genau das zu versprechen: Junge Frau begibt sich eine Woche auf ein Binnenkreuzfahrtschiff, um sie herum ein „Meer aus silbernen und kahlen Köpfen“,3Hartmann, Ilona: Land in Sicht. Berlin: Aufbau Verlag 2020. S. 8. marode Reiseromantik. Es lässt ahnen, dass das Zusammentreffen verschiedener Generationen sowie das Kennenlernen von Vater und Tochter skurril verlaufen könnte. „Ein Schiff ist ein wunderliches Biotop“,4https://www.youtube.com/watch?v=sNNuIYfcpPI sagt die Autorin im Spiegel-Interview, und genau das vermittelt sie auch ihren LeserInnen. Mit Ironie und Humor beobachtet Jana Zwischenmenschliches, knüpft Kontakt zur Besatzung und landet sogar mit dem Bordmusiker Bob auf der Bühne, um Falcos „Kommissar“ zu singen. Dabei bleibt sie jedoch stets in einer beobachtenden, passiven Rolle. Auch das von langer Hand geplante Zusammentreffen mit ihrem Vater Milan geschieht schließlich zufällig, gar beiläufig, denn als jüngste Urlauberin fällt Jana nicht nur den Reisenden, sondern auch ihm auf.

Hartmanns Roman liest sich wie eine kühle Schorle an einem Sommertag: prickelnd, aber ohne große Überraschungen. Die Unaufgeregtheit der Binnenschifffahrt, die, wie Jana es ausdrückt, all jene machen, „die noch ein bisschen was von der Welt sehen wollen, aber bitte nicht zu viel“,5Hartmann, Ilona: Land in Sicht. Berlin: Aufbau Verlag 2020. S.13. zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. Aber es gibt auch Momente, die sind leise und haben Tiefgang. Etwa, wenn Jana von der Beziehung zu ihrer Mutter erzählt und man erfährt, dass diese immer die wahre Heldin in ihrem Leben gewesen ist. Oder, dass sie in ihrer Wahlheimat Berlin nie Fuß fassen konnte; sie permanent an anderen Orten auf der Suche war – nach was genau, weiß sie nicht. Besonders auffällig ist Hartmanns Sprache, denn hier zeigt sich ihre Herkunft als Texterin: Bekannt ist sie für ihre pointierten Twitter-Posts, in denen sie scharfsinnig und mit einer großen Portion Humor und Selbstironie die Gesellschaft beobachtet. „Ich hatte wahnsinnige Angst beim Schreiben, dass ich das Buch verklamauke. Ich wollte gar nicht so viele Pointen reinschreiben, weil ich dem Buch nicht die Tiefe nehmen wollte“,6https://www.youtube.com/watch?v=sNNuIYfcpPI erklärt Hartmann im Interview mit dem Spiegel. Dies ist ihr jedoch nur teilweise gelungen. Besonders zu Beginn des Buches häufen sich die Pointen, wirken mitunter deplatziert. Es entsteht das Gefühl, als müsse Hartmann sich erst besinnen, dass sie einen Roman schreibt und nicht Kurznachrichten auf Twitter absetzt. Doch nach und nach gewinnen die Pointen an Gewichtung, werden spannender und gezielter eingesetzt. Dann gelingt es ihr, Alltägliches mit ungewöhnlichen, aber treffenden Bildern zu beschreiben: „Wir müssen halten zum Gucken und parken in einer Postkarte.“7Hartmann, Ilona: Land in Sicht. Berlin: Aufbau Verlag 2020. S.152. Dieser Ton ist es, der den Roman auf den ersten Blick ausmacht. Auf den zweiten Blick wirkt er jedoch nach und gewinnt an Tiefe.

Wie fühlt es sich nun an, als Erwachsene die Person kennenzulernen, von der man genetisch abstammt? „Hier kommt alles her. Ich, gesehen durch ihn, ergebe plötzlich Sinn“,8Ebd. S.51. heißt es an einer Stelle. Und das nimmt man der Protagonistin Jana ab. Im Verlauf der Geschichte entwickelt sich ein leises Annähern zwischen Vater und Tochter und es wird deutlich, dass der fehlende Kontakt auf beiden Seiten zu Verunsicherung und Orientierungslosigkeit geführt hat. Das zarte Band, welches sie am Ende des Romans knüpfen können, ist geprägt von der Fremdheit einem Menschen gegenüber, der dennoch bedingungslos zu einem gehört.

Ilona Hartmann hat in ihrem Roman nicht nur ihre eigene Geschichte verarbeitet, wie sie sagt. Sie wolle sich selbst als Frau erzählen, die keinen Vater hatte, aber daran nicht zerbrochen ist.9https://www.deutschlandfunkkultur.de/ilona-hartmann-land-in-sicht-auf-der-suche-nach-dem.1270.de.html?dram:article_id=481916 So richtig passt das jedoch nicht zum Charakter ihrer Hauptfigur, die häufig fragil, unsicher und orientierungslos wirkt. Was am Ende bleibt ist die Erkenntnis über die Kraft der genetischen Zugehörigkeit: „Von mir aus hätte er vorschlagen können, gemeinsam im Lachenden Esel übrig gebliebene Pizzaränder von fremden Tellern zu essen – ich hätte ‚Ja‘ gesagt.“10Hartmann, Ilona: Land in Sicht. Berlin: Aufbau Verlag 2020. S.158. Für Jana ist das Leben durch das Kennenlernen mit Milan anders geworden, und doch gleich geblieben. Ein Gefühl, das sich auch bei der Lektüre einstellt. Der Klappentext scheint recht zu behalten: „Ein leichtes Buch für den Sommer“, das jedoch im Nachgang seine Wirkung entfaltet, die einen berührt und nachdenklich zurücklässt.

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