Stellwerk Magazin

Kultur-Archipele Ein Ort für Theater und mehr

Vorwort

Eine Stadt ohne kulturelles Leben ist nur eine Ansammlung von Menschen und Häusern. Dennoch müssen viele Kulturräume um ihr Überleben kämpfen. Sie konkurrieren mit Großbauprojekten und leiden unter Mietendruck. Vor allem die kleinen Kultur-Archipele drohen dabei unterzugehen – oder sind es schon. Umso mehr lohnt ein Blick auf diejenigen, die es schaffen, sich über Wasser zu halten. Dafür nutzen sie die verbliebenen Räume kreativ für sich und ihr Kulturangebot. Zum Beispiel das Studio 11, ein Mikrotheater in einem Ehrenfelder Hinterhof.

© Studio 11 © Studio 11

Coronabedingte Hygienemaßnahmen und Abstandsregelungen spielen noch keine Rolle, als ich mit zwei Freundinnen an einem Novemberabend 2019 beschließe ins Theater zu gehen. Es ist eine spontane Idee in einer Zeit, in der unbeschwertes Zusammensein noch kein vorheriges Anmelden erfordert. „Heute geht es ins Theater und vorher Pizzaessen auf der Venloer Straße,“ lautet der Plan. Wir haben noch keine Karten für das Stück „Electronic City“ von Falk Richter, das an dem Abend im Studio 11 aufgeführt wird – eine optimistische aber keine fatale Entscheidung, wie sich glücklicherweise herausstellen wird.

Unser Ziel, das Studio 11 in Köln-Ehrenfeld, ist Mikrotheater, kulturbildender Raum sowie Trainings- und Veranstaltungsort, gebündelt auf 73 qm. Eröffnet wurde es im Mai 2016 von Patricia Lempke und Maria Jachertz, zwei ausgebildeten Theaterpädagoginnen. Beim Interview im September 2020 sitzen Maria und ich bei Cappuccino und Croissant in Reihe zwei von zweien im Zuschauerbereich des Studios. Dabei erklärt sie mir, dass sie und Patricia mit dem Studio 11 einen Raum für „kreativen Output“ anbieten wollen, den all diejenigen nutzen dürfen, die danach fragen. Ihnen selbst hat jahrelang ein solcher Raum gefehlt. Zu häufig mussten sie sich hierarchischen Strukturen unterwerfen, netzwerken oder sich anbiedern. Dieses ständige Bitten und Anpassen hatten sie satt. Sie wünschten sich einen Ort, der ihnen selbst und anderen Platz bietet und obendrein bezahlbar ist. Also eröffneten sie das Studio 11; ein wert- und hierarchiefreies Theater, das es möglichst vielen Menschen erlaubt, sich kreativ auszuleben. Seitdem finanziert sich das Studio insbesondere von eigenständigen Theaterensembles, die es als Proberaum und für ihre Aufführungen nutzen. Zugleich bieten die beiden Inhaberinnen selbst Theaterkurse an, in denen sie sowohl mit professionell ausgebildeten als auch mit HobbyschauspielerInnen arbeiten. Der Fokus liegt damit schon auf dem Theater – andere kreative Ausdrucksmöglichkeiten, die sich mit Musik oder Text beschäftigen, sind jedoch nicht ausgeschlossen. Damit meint Maria auch die Kurse für kreatives Schreiben, die sie anbot, während gruppenstarke Theaterproben aufgrund der Hygienebestimmungen nicht möglich waren. Mittlerweile darf aber wieder in kleinen Gruppen mit höchstens acht SchauspielerInnen geprobt werden.

Es ist schon kalt, also machen wir uns warm verpackt in Jacke, Mütze und Schal und von der Pizza satt auf den Weg ins Theater. Wir haben es nicht weit von der lebendigen Venloer Straße zum Studio in der Gravenreutherstraße 11. Zunächst verpassen wir zwar den Eingang, weil die mittlerweile dunkle Straße zusätzlich schlecht beleuchtet und der Eingang kaum zu erkennen ist, aber schließlich finden wir ein ungefähr Din A4 kleines Schild an einem großen Eisentor, welches auf das Studio 11 im Hinterhof des Wohnhauses hinweist. Wir gehen an Fahrrädern und Mülltonnen vorbei in Richtung der einladenden, offenen Tür. Diese führt uns durch einen Flur und plötzlich stehen wir mitten in der „Electronic City“-Kulisse auf der Bühne. Die zwei Sitzreihen des weißen Raums sind bereits gefüllt. Es ist warm, doch die Luft noch nicht verbraucht. Im Publikum ist alles vertreten, was ein Ehrenfelder Theater erwarten lässt. Vom Mittfünfziger mit weißen, strähnigen Haaren und buntem Seidenschal, die runde Hornbrille putzend, bis zur Zwanzigjährigen mit Ballonhose und weitem Vintage-Pulli scheint hier jede/r Platz zu finden. Dabei wirkt das Publikum nicht abgehoben. Auch die Bühne ist ebenerdig. An der Kasse direkt neben dem Publikum erwartet uns Maria, die heute Regisseurin des aufgeführten Stücks und Kassiererin für Tickets und Getränke gleichzeitig ist. „Nein, wir haben nicht reserviert“ müssen wir, ob der vollen Sitzreihen, kleinlaut zugeben. „Kein Problem,“ meint Maria, „wenn alle ein Stück zusammenrücken, wird das schon passen.“ Die anderen zwei stehen, zahlen etwas weniger und ich sitze – wir werden uns abwechseln.

Als ich Maria knapp ein Jahr später zum Interview treffe, erzähle ich ihr von meinem ersten Eindruck und beschreibe ihn als „warmherzig“ und „unbeschwert“. Sie muss schmunzeln und entgegnet, dass es nicht Gefahr laufen dürfe, zu kuschelig und zu persönlich zu werden im Studio 11. „Eine herzerwärmende Ansprache“ von Gästen fände sie beispielsweise „schrecklich“. Es solle ein Ort bleiben, an dem sich niemand so fühlen darf, als sei man irgendwo reingeplatzt. Doch die Gefahr besteht durchaus. Denn das Studio 11 hat einen festen Kern an ZuschauerInnen, die oft da sind und nach den Aufführungen gerne auf ein Kölsch bleiben. Auch während des Lockdowns blieben sie treu und unterstützten das Studio finanziell.

Zum Stückbeginn öffnet sich der berühmte Vorhang nicht. Er fehlt genauso wie ein Theatersaal, eine klassische Guckkastenbühne oder eine Hinterbühne. Jacob Eckstein, der den Tom spielt, tritt stattdessen irgendwann aus dem Flur heraus, aus dem auch wir kamen. Er postiert sich in einem unbeweglichen Lichtkegel zwischen von der Decke hängenden, durchsichtigen Plastikfolien und zwei Leinwänden und verfällt in einen aufgebrachten, wirren Monolog über Stress, Verantwortung und Finanzen. Als Joy (gespielt von Hannah Holthaus) dazustößt, beginnt für beide ein verzweifelter Kampf mit der Rastlosigkeit, der steten Erreichbarkeit, Bindungswillen und Leistungsdruck. Dadurch entwickelt sich eine Dynamik aus Distanz und Nähe, aus Rückzug und Annäherung. Die beiden verschwinden hinter den Folien, filmen sich selbst und gegenseitig. Die Aufnahmen werden live auf die Leinwände übertragen. Sie sind mal präsent und laut und mal absent und leise. Es ist kurzweilig und anstrengend.

Nach der Vorstellung wird mit dem Publikum gemeinsam getrunken, gequatscht und gelacht. Diese Gradwanderungen zwischen familiär geschlossener Atmosphäre und Offenheit für neue Leute, zwischen dem unprofessionellen Offenlassen der Kasse beim Feiern nach der Vorstellung und der Professionalität während der Aufführung, bestimmen den Flair im Studio 11. Es herrscht unkomplizierte Ernsthaftigkeit mit einem guten Schuss Herz und viel Lust auf Kreativität. Auf eine Kartenreservierung könnten meinen Freundinnen und ich mittlerweile nicht mehr verzichten. Aufgrund der coronabedingten begrenzten Platzzahl sind diese nun obligatorisch. Aber es wird wieder gespielt und auch Theaterkurse finden wieder statt. Das Studio 11 ist offen für alle.

Headerfoto: © Studio 11

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Aktuelle Vorstellungs- und Kurstermine findet ihr auf der Website des Studio 11