Stellwerk Magazin

Close Reading: Pop und die Intimität in Zeiten der Digitalkultur

Vorwort

Popmusik ist zur allgegenwärtigen Matrix geworden. Ob wir wollen, oder nicht – wir hören sie im Supermarkt, in der Werbung und abends in der Bar. Häufig genug blenden wir sie zusammen mit dem restlichen Hintergrundrauschen aus: Hören wird zu Überhören. Dabei liefert Popmusik Gegenwart in Verdichtung; sie hat das Potenzial als Symptom kultureller Problemstellungen lesbar zu werden. Genau hier schließt die Idee zu unserer STELLWERK-Reihe „Close Reading“ an, die einen radikal textzentrierten Blick auf Popmusik versucht.

Vorschaubild: Der Ringer © Markus Alexander Voigt

Wenn Stella Sommer, die Frontfrau der Band Die Heiterkeit, die Zeilen „Distanz als Form von Nähe“ intoniert, so scheint dies einen Widerspruch auszudrücken, auf den der Titel des Liedes („Im Zwiespalt“) schon dezent verweist. Mitten im zweiten Corona-Lockdown löst sich dieser Widerspruch jedoch auf: Nächstenliebe äußert sich momentan tatsächlich in Form von ‚social distancing‘. Das Überbrücken von Distanzen stellt gerade in Zeiten des Internets, der Digitalkultur, vermeintlich ohnehin kein Problem mehr dar. Schon 1962, noch Jahre vor der Entstehung des World Wide Web, bringt der Medientheoretiker Marshall McLuhan dies prägnant in der Formulierung ‚the world as a global village‘ auf den Punkt. Diese Form der Nähe bleibt jedoch medial vermittelt. Intimität – verstanden nicht nur als Rührung, sondern Berührung des Gegenübers – bleibt unerreichbar. Dieser Zwiespalt – er bleibt es also doch – zwischen globaler Vernetzung einerseits und Intimität andererseits artikuliert sich dabei keinesfalls erst seit der Corona-Pandemie, sondern begleitet die Digitalkultur seit ihren Ursprüngen. Dies artikuliert sich auch in Popmusik, die ihrerseits mit Synthesizer und Autotune das Potenzial der Digitalkultur für sich entdeckt hat.

Computerwelt / Computer Liebe

Bereits 1981 besingen Kraftwerk die „Computerwelt“. Alles scheint sich in einen Binärcode zu übersetzen, sowohl die Wirtschaft als auch der private Raum – mit der Computerwelt korrespondiert der Heimcomputer, der zum Tor zur Welt wird. Dass es sich hier nicht nur (oder überhaupt) um eine soziale Utopie, wie noch bei McLuhan, handelt wird schon im ersten, titelgebenden Lied des Albums deutlich: „Interpol und Deutsche Bank, FBI und Scotland Yard / Flensburg und das BKA, haben unsere Daten da“ – Computerwelt bedeutet immer auch Überwachung und Effizienzsteigerung („Denn Zeit ist Geld“). Mit dieser Prognose resoniert auch der kühle Sound des Albums. Nur ein Lied macht hiervon eine Ausnahme: „Computer Liebe“. Bereits der Titel markiert eine Differenz: Während die Verbindung von Computer und Welt als „Computerwelt“ mühelos aufgeht, so scheint dies für Computer und Liebe nicht zu gelten. Die Leerstelle zwischen den Begriffen scheint der „Lücke die der Rechner lässt“1So der Untertitel von Dirk Baeckers Buch: 4.0. oder Die Lücke die der Rechner lässt. Berlin 2018. zu entsprechen. Denn wenn der Heimcomputer das Tor zur Welt ist – im Lied „Heimcomputer“, das direkt an „Computer Liebe“ anschließt, heißt es: „Am Heimcomputer sitz’ ich hier / Und programmier’ die Zukunft mir“ – dann zeigt „Computer Liebe“ dessen Schattenseite auf: „Ich bin allein, mal wieder ganz allein“. Obwohl im Anschluss nicht auf den Computerbildschirm, sondern den „Fernsehschirm“ gestarrt wird, so zeigt sich hier doch, dass das Tor zur Welt zugleich auch eine Grenze ist. Ausweg aus der Langeweile („Hab heut Nacht nichts zu tun“) soll ein „Rendezvous“ sein. Doch dieses wird nicht im Nachtclub gesucht (wie noch im – ebenso stark von restlichen Œuvre abweichendem – Lied „Das Modell“), sondern im „Bildschirmtext“. Diese heute etwas archaisch wirkende Vorform des Internets, die ähnlich wie der Teletext funktionierte und vor allem für gewerbliche Zwecke verwendet wurde, bot auch die Möglichkeit Kontaktanzeigen zu schalten und zu chatten. Der Versuch, über den Bildschirmtext der Langeweile zu entkommen, bleibt jedoch bloß artikulierte Möglichkeit. Gleich darauf wird wiederholt „Hab heut Nacht nichts zu tun, hab heut Nacht nichts zu tun / Ich brauch ein Rendezvous, Ich brauch ein Rendezvous“ und beschließt zugleich den gesungenen Teil des Liedes. In der englischen Fassung (das Album wurde 1981 direkt als deutsche und englischsprachige Version veröffentlicht) wird sich nicht in den Bildschirmtext eingewählt, sondern es kommt zu einem „data date“. Scheint in der deutschen Fassung das Rendezvous als Ausweg aus der Isolation, so wird in der englischen der Bildschirmkontakt selbst zum Rendezvous – „It’s more fun to compute“? Das Lied weicht jedoch nicht nur textlich vom Rest des Albums ab – auch musikalisch fällt es aus der Reihe. Ungewohnt leicht, fast warm, klingt die Melodie. Bei ca. 5:23 meint man aus den Synthesizer-Sounds sogar das Einsetzen von Streichern herauszuhören – wenn auch leicht verzerrt. Analog und Digital werden also auch musikalisch miteinander konfrontiert, womit sich die Frage anschließt: Braucht es das Analoge, um Sinnlichkeit auszudrücken?

Avatare und Kartendienste

Die Möglichkeiten des Bildschirmtextes waren begrenzt, 2007 wurde er in Deutschland eingestellt. Doch die Frage, die Kraftwerk in „Computer Liebe“ in den Raum stellt, bleibt virulent: Geht das zusammen – Computer und Liebe? 2016 erscheint mit „Apparat“ der Hamburger Band Der Ringer ein Lied, das diese Frage sehr eindeutig mit einem Nein beantwortet. Ein namenloses Du baut ein namenloses Ich zusammen – das dazugehörige Musikvideo legt nahe, dass das Ich ein Avatar, eine 3D-Simulation ist. Doch diese scheint ein Eigenleben zu haben, wenn sie sich verzweifelt an ihren Schöpfer richtet: „Nimmst du mich wahr / Nimm mich doch wahr / Ich bin nicht da / Für dich bin ich nicht da“. Doch an diesem Zustand ändert sich nichts – „[Du] [e]ntwirfst mich so wie du es willst“. Das Verhältnis der beiden bleibt einseitig. Zwischen ihnen ein „Screen“ – für das Du ist das Ich „nicht real / Ein Gesicht im Datenstrom“.

Der Screen ist hier nicht mehr bloß Tor zur Welt, sondern ermöglicht zugleich die Simulation neuer Welten – er wird zur Projektionsfläche für das Du, das den Avatar nach seinen Wünschen skalieren und retuschieren kann. Gleichzeitig wird der Screen zur unüberbrückbaren Grenze, denn dahinter liegt nichts Reales, bloß ein Datenstrom. „Ganz wild“ zieht das Du am Avatar herum und wird doch nicht von ihm erfüllt. Egal wie perfekt die Simulation gelingt – „Ganz in 3D“ – sie kann die Realität nicht überbieten, denn 3D, „das kennst du leider schon“. Ein Avatar muss zwar keine ausschließlich künstliche Figur sein, sondern kann auch für eine reale Person hinter diesem Avatar stehen, doch scheint dies an der Pointe von „Apparat“ nichts zu ändern: Man „will […] berühren“, aber kann es nicht, der Screen steht zwischen einem, nie ist man ganz real, bleibt ein „Gesicht im Datenstrom“.

Ganz anders bei der Kölner Band The Screenshots. Dass deren Mitglieder Dax Werner, Kurt Prödel und Susi Bumms auch und vor allem Avatare sind, war der Ausgangspunkt ihrer gemeinsamen Karriere, denn kennengelernt hat sich die Band via Twitter. Auch der erste öffentliche Auftritt im Neo Magazin Royale geschah noch als Silhouette – erst bei eigenen Konzerten zeigten sie sich auch als Personen hinter den ‚Twitter-Ikonen‘. In ihrem Lied „Google Maps“, erschienen 2018, verhandeln sie das Verhältnis von Distanz und Nähe auf der Folie von analog vs. digital: „Ich will raus, ich will raus / ich will raus aus dieser Stadt“ heißt es gleich zu Beginn, doch „15 Euro bis nach Kiel / Meine Meinung: viel zu viel.“ Stattdessen entscheidet man sich für ein anderes Mittel, um die Distanz nach Kiel zu überbrücken: „Ich scrolle auf der Karte bis zu dir“. Hier zeigt sich die Welt also doch als globales Dorf, in dem jede Distanz (oder zumindest die bis nach Kiel) durch ein mobiles Endgerät überbrückt werden kann, denn: „Auf Google Maps da gibt’s 'nen Ort / Und da wohnst du“. Spätestens, wenn das Scrollen zum Fahren wird („Und ich fahr’ und ich fahr’ / Und ich fahre nicht mehr weit“) scheint die Notwendigkeit, das Haus, das Netz, zu verlassen obsolet. Bis zum ersehnten „Du“ beträgt die Entfernung nicht mehr Kilometer, sondern wenige Handbewegungen.

Spätestens mit dem Touchscreen scheint also der Moment gekommen, an dem Berührung und Digitalkultur zusammenfinden. Ob damit eine ‚analoge‘ Berührung ersetzt werden kann oder der Screen doch die Grenze bleibt, an der man bloß wild herumzieht, lässt sich nicht eindeutig entscheiden. Das Verhältnis zwischen Computer und Liebe ist jedenfalls nicht nur bei Kraftwerk ambivalent, sondern bleibt es bis heute. Und während die Entwicklung neuer Medientechnologien die Lücke immer weiter reduziert, bleibt damals wie heute nur ein analoger Ausweg: Das Rendezvous – auch wenn sich aktuell nur Füße oder Ellbogen berühren.

Headerfoto: Daniele Dalledonne from Trento, Italy, CC BY-SA 2.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0, via Wikimedia Commons