Stellwerk Magazin

Scheiß-drauf-Mentalität

Vorwort

Der autobiografische Roman „Dicht. Aufzeichnungen einer Tagediebin“ von Stefanie Sargnagel ist ein humorvoller Trip in die wilde Jugend der Wiener Autorin und Künstlerin. Zwischen Dosenbier und dem Qualm des letzten Joints wirft Sargnagel in ihrem Debüt einen erheiternden, aber nie entblößenden Blick auf eine bunte Schar an Außenseiter-Existenzen, zu denen ihre Protagonistin sich im Doppelpack mit Freundin Sarah gesellt. Der Mitte Oktober bei Rowohlt erschienene Roman liest sich streckenweise wie ein in Buchform gegossener Blog und ist zugleich eine Liebeserklärung der Schriftstellerin an das brutale und dichte Szeneleben der österreichischen Hauptstadt.

„Dicht. Aufzeichnungen einer Tagediebin“ von Stefanie Sargnagel Stefanie Sargnagel: Dicht. Aufzeichnungen einer Tagediebin. Hamburg: Rowohlt Verlag 2020. 20 Euro.

Es sind die späten 1990er Jahre in Wien: Gemeinsam mit ihrer Freundin Sarah sucht die jugendliche Ich-Erzählerin Stefanie nach Freiräumen jenseits des verhassten Schulsystems. Gegenentwürfe zu diesem als konservativ und einschränkend wahrgenommenen „Hort der Sinnlosigkeit“1Sargnagel, Stefanie: Dicht. Aufzeichnungen einer Tagediebin. Hamburg: Rowohlt Verlag 2020. S. 16 liefern den beiden verrauchte Lokale und Parks, wo sie mit Punks, AlkoholikerInnen, Obdachlosen, Schizophrenen und diversen Randständigen der Wiener Szene in Berührung kommen. Mit ihnen gemeinsam kiffen sie, trinken Dosenbier und finden das Stück Freiheit, um das sie sich alle vom „System“ betrogen fühlen: „Während wir kiffend die Weltrevolution planten, fokussierten wir uns zunehmend auf das Schulsystem als Kern des ganzen Problems.“2Ebd. S.21 Auf diesen Touren lernen Stefanie und Sarah nach und nach alle möglichen Freigeister und Freaks im besten Sinne kennen, die eine große Faszination auf die beiden ausüben. Auf der Votivwiese begegnet ihnen beispielsweise die 15-jährige „kindliche Doris mit ihren zwei Mäusen“, die davon überzeugt ist, schwanger mit einem Alien oder einem Engel zu sein: „Sie meinte, ein Menschenkind brauche ja nur neun Monate, um geboren zu werden, deshalb sei sie sich ziemlich sicher, dass es ein Alien werde. Möglicherweise aber auch ein Engel.“3Ebd. S.34 Unter den schrägen Vögeln findet sich auch ein sudanesischer Alkoholiker, den alle „König Mao“ nennen, und schließlich treffen sie auf den verrückten Charakter „Aids Michl“, der nicht nur ein Kettenraucher, sondern auch ein gebildeter Mann Ende dreißig ist. „Trotz seiner Kaputtheit hatte er etwas Spitzbübisches.“4Ebd. S.53 Aus der skurrilen Erscheinung wird im Verlauf des Romans eine plastische Figur, die die heranwachsenden Frauen nachhaltig prägt. „Seine Art zu sprechen färbte auf uns alle ab, wir probierten uns in verschwurbelten Michi-Aphorismen, und bald kannte er auch unsere Namen.“5Ebd. In Michis 30-Quadratmeter-Erdgeschoss-Wohnung hängen sie gemeinsam auf der Couch oder der Matratze ab, hören Georg Kreisler auf dem CD-Player, trinken massenhaft Dosenbier oder konsumieren Drogen. Nicht selten sind sie mit dreißig Leuten in der kleinen Bude und philosophieren hier manche Stunde high über das Leben oder über die Zukunft. In diesen Schilderungen von Gemeinschaft wird immer wieder deutlich, dass für Sargnagel Glück und Zufriedenheit weniger im bürgerlichen Rahmen zu finden sind als vielmehr in der alkoholisierten, chaotischen und multikulturellen Runde im Park oder in Michis Wohnung.

Man könnte beim Lesen meinen, es mit einer Sammlung von Tagebucheinträgen zu tun zu haben. Die verschiedenen Episoden und Erlebnisse werden eher additiv aneinandergereiht, als dass sie wie das Ergebnis einer sorgfältigen Komposition wirken. In Sargnagels bildreichen Beschreibungen der verschiedenen Schauplätze wird außerdem die österreichische Hauptstadt beim Lesen plastisch erfahrbar – und tatsächlich werden inzwischen schon Stadttouren angeboten, in deren Rahmen man sich auf die „Spuren“ des Romans begeben kann. Auch in der Sprache schlägt sich unverkennbar das Wienerische nieder, was die Authentizität des Erzählten noch verstärkt und zudem Sargnagels Talent für präzise Beobachtungen und Beschreibungen einmal mehr beweist. Mit ihrem Debütroman stellt diese sich erstmals der Herausforderung auf lange Strecke zu schreiben, denn bisher hat sie nur im Kurz-Format veröffentlicht. Vor drei Jahren erschien beispielsweise – ebenfalls bei Rowohlt – ihr Buch „Statusmeldungen“; eine Sammlung ihrer über Jahre hinweg fast täglich bei Facebook abgesetzten Kurztexte, in denen sie politische Ereignisse ebenso amüsant und sarkastisch kommentiert wie das eigene prekäre Dasein als Mitarbeiterin in einem Callcenter. Inzwischen ist Sargnagel jedoch – ob sie will oder nicht – im Literaturbetrieb angekommen. „Mein Alltag jetzt ist halt sehr langweilig, da müssen jetzt die anarchischen Jugendjahre herhalten.“6Ebd. S.10 erklärt die 34-jährige lakonisch in dem einleitenden Abschnitt ihres Romans, der explizit „Kein Prolog“ betitelt ist. Sargnagels Schreibstil erinnert immer wieder an Rainald Goetz: beobachtend und wertend, geprägt von einer morbiden Spitzzüngigkeit und dem Finger in der Wunde. Mit ihm verbindet sie zudem, dass beide eine eigene literarische Form im Netz entwickelt haben, die als Literatur zu funktionieren scheint. Im Internet überzeugt sie als erste deutschsprachige Autorin mit einem Stil, der nicht völlig verkrampft Kunst sein möchte – und dennoch: Sargnagel schafft vollwertige Literatur. Auch in „Dicht“ findet sie einen Modus des Erzählens, der lustig und gleichzeitig provokant real ist.

Sargnagels Roman ist wie eine Exkursion zurück in die Unbefangenheit der Jugend. Sie führt uns auf humorvolle Art und Weise vor Augen, wie engstirnig und kurzsichtig wir mit zunehmendem Erwachsenenalter werden können. Oder, wie Quentin Lichtblau in seiner Rezension treffend zusammenfasst: „Sargnagels Ich […] bewegt sich durch diese Wohnungen, Parks und „Hittn“ […] mit einer Offenheit und Solidarität, die bei den meisten Menschen leider spätestens zum Ende der Jugend verloren geht […].“7https://www.fluter.de/dicht-sargnagel-rezension Ihr autobiografischer Roman ist witzig und brutal lebensnah, bestens geeignet für alle, die den Blick über den eigenen Tellerrand heben wollen, und sich ein Stück Offenheit und Solidarität zurück erkämpfen möchten.

Headerfoto: © Nils Krüler