Stellwerk Magazin

Zug um Zug zum Meisterwerk

Vorwort

Kann man dem Hype trauen? „Das Damengambit“ wurde 2020 zu einer der erfolgreichsten Netflix-Produktionen aller Zeiten und hat die Herzen von über 60 Millionen Haushalten im Sturm erobert. Die Wirkung der Serie war so groß, dass die gleichnamige Buchvorlage von Walter Tevis nach fast vierzig Jahren wieder ein Bestseller ist und das Schachspielen online wie offline einen Hype erfährt. Normalerweise sind Klickzahlen und die Meinung der breiten Masse kein Garant für Qualität, aber im Falle der Miniserie um eine geniale Schachspielerin hat die Schwarmintelligenz absolut recht: Die Serie ist ein Meisterwerk.

ISLA JOHNSTON as BETH (ORPHANAGE) and BILL CAMP as MR. SHAIBEL in episode 101 of THE QUEEN'S GAMBIT Cr. COURTESY OF NETFLIX © 2020 Isla Johnston als die junge Beth Harmon und Bill Camp als ihr Mentor Mr. Shaibel Courtesy of Netflix © 2020

Die Handlung dreht sich um Beth Harmon (Anya Taylor-Joy), ein suchtkrankes Schachgenie, das in den 1950er Jahren in einem amerikanischen Waisenhaus aufwächst und sich als starke Frauenfigur in der Männerwelt des professionellen Schachs etabliert. In den folgenden Jahren kämpft sich Harmon bis an die Weltspitze, obwohl sie immer wieder von privaten Problemen beinahe Schachmatt gesetzt wird.

„Das Damengambit“ verarbeitet diese Coming-of-age-Geschichte in einem vielseitigen Genremix aus Drama, Romance und Comedy, der dennoch wie aus einem Guss wirkt. Vom historischen Set-Design über die Kostüme bis hin zu Musik und Colourgrading – die Serie ist in allen Belangen ausgezeichnet. Dabei kommt sie fast ohne CGI-Effekte aus und stützt sich ganz auf klassisches Filmhandwerk. Die Serie ist dabei ebenso introspektiv, was die Charakterisierung ihrer Figuren angeht, wie sie sich vornehmlich in Innenräumen abspielt: Der deutsche Set-Designer Uli Hanisch visualisiert das Seelenleben und die Situation der Figuren durch ein aussagekräftiges, leicht stilisiertes Szenenbild, wie z. B. die einschüchternde Optik der russischen Handlungsorte oder die Umgestaltung von Harmons Haus im Stil der 1960er Jahre als Akt der Emanzipation. Das macht allein die Bühne von „Das Damengambit“ zu einem Kunstwerk, in welchem vor allem die Hauptdarstellerin durch eine hervorragende Regie brillieren kann

Es ist extrem schwierig, sechseinhalb Stunden Filmhandlung über diverse Partien eines Spiels umzusetzen, das fast nur im Kopf der Duellanten stattfindet. Regisseur Scott Frank gelingt es jedoch, das Spiel der Könige so zu inszenieren, dass mehr Spannung als bei jeder „Mission Impossible“ aufkommt. Der Unterhaltungswert liegt weniger in den akribischen Details des analytischen Denksports als in der thrillerartigen Umsetzung des mentalen Zweikampfs zwischen zwei Menschen. Das Ticken der Uhr beim Blitzschach als explodiere gleich eine Bombe, die schnellen Schnitte bei einer aggressiven Attacke oder der nachhallende Echoton beim Umfallen des Königs. Dabei sind die Partien sowohl zugänglich als auch authentisch genug gehalten, um für Laien und Profis gleichermaßen interessant zu sein.

COURTESY OF NETFLIX © 2020 Beth Harmon beim Showdown in Moskau Courtesy of Netflix © 2020

Es zeigt sich an „Das Damengambit“, dass Miniserien das ideale Format sind, um komplexe Stories zu erzählen. Filme bieten oftmals zu wenig Zeit, um wirklich in die Tiefe zu gehen und lange Serien drehen sich häufig solange inhaltlich im Kreis, bis sie zu ihrer eigenen Parodie werden. Endlich hat bei Netflix der Mut gesiegt, sich durch kreatives Filmemachen eines Themas anzunehmen, das noch nicht in tausendfacher Form bearbeitet wurde. Eine Serie, die ohne Explosionen, Morde, Aliens oder Superhelden auskommt, ist eine mehr als willkommene Abwechslung in der Mainstream-Medienwelt. Das angestaubte Nischenthema des Schachs wird durch die komplexen Charaktere und die exzellente audiovisuelle Darstellung für ein Massenpublikum nahbar gemacht, ohne Mysterium und Zauber dieses seltsamen Sports aufzugeben. Besonders erfreulich ist, dass sich Harmons Vorgeschichte im Waisenhaus ein wenig so anfühlt, als hätte man Stefan Zweigs geniale „Schachnovelle“ verfilmt: Wie Dr. B. befindet sich auch Harmon in einer Situation der Gefangenschaft, deren Enge und Ausweglosigkeit sie einzig Kraft ihres überragenden Geistes durch Schachpartien gegen sich selbst entflieht. Das labyrinthische Denkmuster Millionen möglicher Züge, das klaustrophobische Gefühl im Wechselspiel mit dem eigenen Wahnsinn und das Drohen einer „Schachvergiftung“ klingen auch in der Netflixserie an.

Völlig zurecht wurde Anya Taylor-Joy bei den diesjährigen Golden Globes gleich zwei Mal als beste Hauptdarstellerin nominiert: für die Jane-Austen-Verfilmung „Emma“ und für „Das Damengambit“. Ihre sympathische und nuancierte Darstellung gibt Beth Harmon so viel Wiedererkennungswert, dass es verblüffend ist. Die Rolle ist sehr wortkarg angelegt und allein durch Körperhaltung, Bewegung und vor allem ihren Gesichtsausdruck erzählt Harmon mehr als jeder Hollywood-Hansdampf durch übertriebenes Method-Acting. Kleine Gesten wie das Falten der Hände am Schachbrett, ihre stocksteife Körperhaltung oder ein spöttischer Blick sind so geschickt eingesetzt, dass sie sich die vielschichtige Rolle völlig zu eigen macht. Sie hat sich spätestens mit dem „Damengambit“ als eine der besten Schauspielerinnen der Gegenwart etabliert und wird mit Sicherheit in Zukunft einmal einen Oscar gewinnen.

So gut die Hauptdarstellerin ist, als so störend empfindet man Thomas Brodie-Sangster, den man u.a. als Grünseher Jojen Reet aus „Game of Thrones“ kennt. In der Rolle des großspurigen Schachmeisters Benny Watts ist er die einzige Schwäche im Cast. Auch mit Bart und einem ebenso markigen wie clownesken Kleidungsstil zwischen Zorro und Indiana Jones sieht der dreißigjährige Schauspieler noch immer so aus wie ein kleines Kommunionkind. Jede seiner Szenen ist ein einziger Krampf, auch wenn die Figur als solche funktioniert.

Wo wir gerade bei ein oder zwei unachtsamen Bauernopfern in einer ansonsten perfekten Partie sind: Ein weiterer klitzekleiner Schwachpunkt der Filmhandlung ist es, Harmons Talent dadurch zu erklären, dass ihre Mutter eine promovierte Physikerin war. Harmon hätte wunderbar als Originalgenie mit viel Selbstdisziplin funktioniert, weil das die Underdog-Geschichte noch stärker machen würde. Aber das ist wirklich nur ein minimaler Makel an einem Meisterwerk, das zugleich ein erfreulich starkes Statement für den Feminismus ist.

Header- & Vorschaufoto: © Phil Bray / Netflix 2020