Stellwerk Magazin

Nachbarschaftstreffen in Utopia

Vorwort

StadtbewohnerInnen leben auf engem Raum und teilen sich öffentliche Plätze mit vielen. Momentan ist das coronabedingt erschwert und die gegenseitige Rücksichtnahme damit noch wichtiger als sonst. Dabei ist die Pandemie hoffentlich nur eine temporäre Herausforderung für das friedliche Zusammenleben in der Stadt. Unzählige weitere Sozialbarrieren bestehen und werden errichtet. Was den Einen freut, stört die Nächste. Konflikte entstehen, die es zu lösen gilt – nur wie? Genau das muss geübt werden, findet das Bonner fringe ensemble. Dafür zieht es aus seiner Homebase im Theater im Ballsaal in den digitalen Raum und lädt auf Zoom zur interaktiven Performance „Map to Utopia“ ein.

Besetzung:

Es spielen: Philine Bührer, David Fischer, Georg Lennarz, Laila Nielsen, Philip Schlomm

Konzept und künstlerische Leitung: Ceren Ercan, Frank Heuel, Mark Levitas, Annika Ley, Fehime Seven Regie: Frank Heuel Virtuelles Design, Bühne und Kostüme: Annika Ley Spiel-Entwicklung und -Design: Fehime Seven Dramaturgie, Text: Ceren Ercan Sound-Design: Ömer Sarıgedik

„Hi, ich bin Sahara, Kunststudentin und 23 Jahre alt. Um am Puls des kulturellen Zeitgeistes zu leben, bin ich kurz vor meinem Studium umgezogen. Ich lebe jetzt im ehemaligen Arbeiterviertel der Stadt. Die alten Produktionsstätten sind zu Orten für Kultur und Kunst geworden. Eigentlich fühle ich mich hier sehr wohl. Allerdings stört mich die männliche Dominanz auf den Straßen.“ Mit diesen Worten stelle ich mich als Bewohnerin des Stadtviertels „GRÜN“ vor. GRÜN, meine Heimat für 90 Minuten eines Januarabends, ist Teil von „Utopia“, einer virtuellen Stadt, erschaffen vom Bonner fringe ensemble in Koproduktion mit der Istanbuler Platform Tiyatro. Utopia dient dem internationalen Team als Projektionsfläche, um soziologische Problemstellungen im urbanen Raum sichtbar zu machen. Es geht ihnen um nichts Geringeres, als mögliche Antworten auf Fragen des Zusammenlebens in der Stadt der Zukunft zu finden.

Tür an Tür mit Fremden wohnen, die alle unterschiedliche Wünsche und Erwartungen ans Stadtleben haben, führt zu Konflikten. Man ist genervt, fühlt sich übersehen und unterrepräsentiert. Die Grenzen der eigenen Entfaltung sind die Entfaltungsansprüche der anderen. Wer religiös ist, braucht ein entsprechendes Gotteshaus. Wer Kinder hat, wünscht sich Spielplätze. Wer ein Auto fährt, braucht einen Parkplatz. Clubs, Bars und Partys sind laut und können AnwohnerInnen nerven. Gleichzeitig sind sie Zufluchtsorte für junge Menschen. An diesem Wirrwarr, dem bunten Mix aus Wünschen, die sich gegenseitig Raum nehmen, können sich Streit, Missgunst und Diskriminierung entzünden, die überwunden werden müssen, um in Gemeinschaft leben zu können. Doch wie lässt sich das unter Einbeziehung individueller Vorstellungen demokratisch gestalten? Wie lassen sich soziale Barrieren friedlich niederreißen? Diese Fragen haben sich das fringe ensemble und die Platform Tiyatro unter der künstlerischen Leitung von Ceren Ercan, Frank Heuel, Mark Levitas, Annika Ley und Fehime Seven gestellt. Ergebnis ist die interaktive Performance „Map to Utopia“.

Utopia ist eine fiktive Stadt. Ihr Fundament ist die Kommunikationsplattform Zoom. Sie wird durch ihre BewohnerInnen zum Leben erweckt, die ihre Geschichten und Agenden beim virtuellen Nachbarschaftstreffen ausdiskutieren. Insgesamt beherbergt Utopia vierzig BewohnerInnen. Auf entsprechend viele Tickets ist der Verkauf begrenzt. Jede/r TeilnehmerIn von „Map to Utopia“ wird Teil der Nachbarschaft oder StadtplanerIn eines Distrikts. Neben „GRÜN“ gibt es „BLAU“, „ROT“ und „GELB“. Alle viertelspezifischen Problemstellungen Utopias sind je von einem Stadtviertel Istanbuls inspiriert. Folgerichtig wurde die Performance im November 2020 auf dem Istanbuler Theater Festival Tiyatro uraufgeführt. Auch in Istanbul nimmt das Publikum mit großer Begeisterung an „Map to Utopia“ teil. Regisseur Frank Heuel führt das auf den Verlust von Meinungs- und Versammlungsfreiheit in der Türkei zurück, sagt er im Anschluss an die Performance im Zoom-Gespräch. Demokratische Grundwerte, die in der Öffentlichkeit nicht gelebt werden können, finden somit Platz im virtuellen Theater.

Ich sitze also an einem Samstagabend an meinem Schreibtisch vor meinem Laptop, um meinen virtuellen Umzug nach Utopia vorzubereiten. Für die Teilnahme brauche ich Zoom und eine App, die ich mir im Vorhinein auf mein Smartphone lade. Die App wird mir sagen, welche Rolle ich einnehme. Ich werde zu Sahara der Kunststudentin, die sich mehr Raum für Kunst wünscht und sich an zu viel Männlichkeit auf den Straßen GRÜNs stört. Fünf SchauspielerInnen begleiten uns TeilnehmerInnen durch Utopia. Der Moderator, gespielt von Georg Lennarz, sorgt für ein erstes Warmwerden mit der Stadt und stellt eindrücklich die Herausforderungen vor, denen StadtbewohnerInnen weltweit ausgesetzt sind. Wirklich angekommen in meiner zeitlich begrenzten Wahlheimat bin ich aber erst nach der Einführung durch die „Anima“, der Seele von GRÜN, gespielt von Laila Nielsen. Die bildhaften Beschreibungen des Viertels finden durch ihren intensiven Blick in die Kamera unmittelbar Zugang zu meiner Fantasie. Ich fühle mich persönlich eingeladen und abgeholt, um mein neues Zuhause kennenzulernen. Nun lebe ich in einem eng bebauten Stadtviertel, zwischen bunten Balkonen, einer Vielfalt an Cafés, Schnellrestaurants, Bars und Airbnb-Wohnungen. Nachts wird in Clubs gefeiert. Alkohol und Drogen sind allgegenwärtig. Die Menschen hier setzen sich für den Klimaschutz ein und am Wochenende kaufen sie Vintage-Mode auf Flohmärkten. Ich lebe – zumindest für die nächsten 90 Minuten – im gentrifizierten Arbeiterviertel GRÜN, der virtuellen Stadt Utopia. In der analogen Welt wäre es Beyoğlu/Istanbul, könnte aber auch Ehrenfeld/Köln oder Kreuzberg/Berlin sein.

Nachdem ich mein Viertel kennengelernt habe, stellen sich mir die NachbarInnen und StadtplanerInnen GRÜNs vor. Alle sollen kurz beschreiben wer sie sind, was sie bewegt und was sie sich für ihr Leben im Distrikt wünschen. Angeleitet werden die Vorstellungsrunde und spätere Diskussionsrunde von unserer Anima. Schon bei der Vorstellungsrunde wird schnell erkennbar wen was in GRÜN stört, wer was verändern will und wer mit wem anecken wird. Ab diesem Zeitpunkt bekommt die imaginäre Stadtkulisse erste Risse und ich befinde mich wieder an meinem Schreibtisch bei einer Zoom-Konferenz. Der Rückfall in die Realität ist abrupt und vom fringe ensemble nicht zu verhindern. Die konstruierten Streitthemen sind realistisch, aber auf Zoom bleiben die Diskussionen, was sie sind: emotionslos und teilweise widerwillig vorgetragene, fremde Argumente von BesucherInnen Utopias. Doch der mit Metaphern und Analogien gespickte Monolog des Moderators, der die Nachbarschaftstreffen unterbricht, fängt mich wieder ein und entführt mich zurück nach Utopia. Er referiert über Demokratie, umreißt ihre Stärke, gleichberechtigte Individuen zusammenzubringen, die freiheitlich und gemeinschaftlich Entscheidungen treffen, und benennt dann ihre größte Schwäche: Demokratie kann nicht alle Interessen der Gesellschaftsmitglieder gleichermaßen berücksichtigen. Es wird immer enttäuschte geben. Daher sind Rücksichtnahme, Kompromissbereitschaft und Toleranz elementar, die nur durch Kommunikation gewahrt werden können. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, oder?

„Map to Utopia“ rüttelt an diesem gesellschaftlichen Selbstverständnis. Dazu aktiviert die Performance unser Wissen darüber, wie Gemeinschaft funktioniert, und beweist eindrucksvoll, dass es auf Kommunikation ankommt. Sie ist Übungsplatz für gelebte Demokratie und illustriert, wie schwer es ist, für jede/n verträgliche Lösungen zu finden und individuelle Freiheit und Gemeinschaft miteinander zu vereinbaren. Dazu nimmt sie einen mit auf die Reise in eine Stadt, in der man selbst wohnt. Utopia lebt – wie jede Stadt – von ihren BewohnerInnen, deren Interessen, Wünschen und Auseinandersetzungen. Diese Erkenntnis ist nicht neu, aber aktiv in die Mitgestaltung von Gemeinschaft einzusteigen war eine inspirierende Erfahrung. Utopia ist zudem keine Utopie und sollte ihren Weg ins gesellschaftliche Bewusstsein fortsetzen. Möglichkeit dazu bieten weitere Vorstellungen im März: am 19. und 20. März 2021 findet „Map to Utopia“ in englischer Sprache statt.

Headerfoto: Philip Schlomm, Laila Nielsen, David Fischer und Philine Bührer © Tanja Evers

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Hier findet ihr weitere Informationen und Buchungsmöglichkeiten auf der Website des fringe ensembles