Stellwerk Magazin

„Bedeutungslosigkeit auf siebzig Zeilen gestreckt“

Vorwort

Wer hat eigentlich den Dosenöffner erfunden? Um diese Frage herum konstruiert Comedy-Autor Tarkan Bagci mithilfe klassischer Erzählwerkzeuge die Geschichte des nach Erfolg und Anerkennung strebenden Lokaljournalisten Timur Aslan. Auf der Suche nach einer großen Story macht der junge Ich-Erzähler eine ungewöhnliche Bekanntschaft, die nach und nach seine Sicht auf die Welt verändert. Der Anfang Februar im Ullstein Verlag erschienene Debütroman von Tarkan Bagci fängt stellenweise authentisch die Lebensrealität einer ganzen Generation ein, lässt aber manches Potenzial ungenutzt.

Tarkan Bagci © Crop Social Media Tarkan Bagci © Crop Social Media

„Das Wort ‚Hühner‘ fiel mir sofort auf. Nur sechs Buchstaben. Da ging noch was. Ich machte ‚ausgesprochen ansehnliches Gefieder-Exemplar‘ daraus. Das nächste ‚Huhn‘ verwandelte ich in ein ‚glücklich gackerndes Federvieh‘, und aus dem ‚jährlichen Wettkampf‘ machte ich ‚ein sich jedes Jahr wiederholendes Kräftemessen der Hühnerliebhaber‘. Nach ein paar gewonnenen Zeilen griff ich zum Handy, um Instagram zu checken.“1Bagci, Tarkan: Die Erfindung des Dosenöffners. Berlin: Ullstein Verlag 2021. S. 8. Timur Aslan steckt fest. In der Lokalredaktion einer Tageszeitung. In der Kleinstadt, in der er aufgewachsen ist. Und in dem großen Einfamilienhaus seines Vaters, der sich mehr für Oldtimer als seinen eigenen Sohn interessiert. Dabei will Timur eigentlich raus in die Welt, die große Karriere machen und als Journalist über die wirklich wichtigen Themen berichten. Stattdessen verbringt der 20-Jährige seine Zeit damit, Artikel über den örtlichen Geflügelzüchter durch vielsilbige Synonyme auf die geforderten 70 Zeilen auszudehnen oder verwirrte Rentner bei Jubiläumsfeiern zum 50. Geburtstag des Kegelvereins abzulichten. Noch dazu ist auch Timurs Privatleben „absolut langweilig“2Ebd. S. 7.. Seine Freunde haben der alten Heimat längst den Rücken gekehrt und führen inzwischen ein viel aufregenderes Leben – das lassen zumindest die Instagram-Fotos von Studentenpartys in Hamburg oder vom Surfen in Australien vermuten.

Auf der Suche nach einer „Hammer-Story“3Ebd. S. 37., die ihm endlich das heißersehnte Volontariat verschaffen und ihn aus der Kleinstadt-Enge herausholen könnte, begegnet Timur der 73-jährigen Annette, die behauptet, den Dosenöffner erfunden zu haben. Die etwas ruppige, alte Dame bringt wieder ein wenig Schwung in Timurs Leben, denn sie hütet ein Geheimnis, für das die beiden nicht nur bis in die Schweiz, sondern auch zurück in Annettes Vergangenheit reisen. Mit Leichtigkeit und einem guten Blick für das Humorvolle im Alltäglichen gelingt es Tarkan Bagci in „Die Erfindung des Dosenöffners“, ein stimmiges Bild der oftmals von Karrieredruck und FoMO („Fear of missing out, dt. die Angst, etwas zu verpassen) geprägten Lebensrealität einer jungen Generation zu zeichnen. Dabei spielen auch die ständige Ablenkung durch Smartphones und Social-Media-Plattformen als Orte der Selbstdarstellung eine Rolle. Zum Beispiel wenn Timur Fotos von seinem in Zigarettenrauch gehüllten Schreibtisch postet, die nichts mit der Realität zu tun haben: „Dass direkt neben dem Schreibtisch ein Haufen Müll auf meinem Bett lag, der Artikel von einem Hühnerzüchter-Verein handelte und auf dem Notizblock nur so Dinge wie ‚Milch kaufen‘ und ‚Staubsaugen‘ standen, sah man zum Glück nicht.“4Ebd. S. 25.

Wie sein Protagonist wollte auch Tarkan Bagci eigentlich Journalist werden und hat schon während seines Studiums erste Erfahrungen in verschiedenen Lokalredaktionen gesammelt. Inzwischen schreibt er als Autor für Fernsehformate wie das „Neo Magazin Royale“, „Kroymann“ oder „Knallerfrauen“ und veröffentlicht gemeinsam mit Christian Huber („Neo Magazin Royale“, „7 Kilo in 3 Tagen“) jede Woche eine neue Folge des Impro-Comedy-Podcasts „Gefühlte Fakten“. Von banalen Alltagsbeobachtungen, über „ungewöhnliche Todesfälle“, „Sätze, die noch nie jemand gesagt hat“ bis hin zu aktuellen politischen Ereignissen besprechen sie darin die unterschiedlichsten Themen. In der Sonderfolge „Behind the Scenes“ geben die beiden Autoren Einblicke in ihre Arbeit, wobei sie besonders die handwerklichen Fähigkeiten betonen, mit denen Geschichten gebaut sein sollten.

Mit Blick auf „Die Erfindung des Dosenöffners“ hätte etwas weniger Handwerk jedoch gutgetan. Im Verlauf des Romans stellen sich fast alle Figuren als handlungstreibende Bausteine heraus und nahezu jede Szene wird zur tragendenden Wand im Grundgerüst der Romanhandlung. Die Bauweise orientiert sich dabei streng an der klassischen Struktur einer Heldenreise: Der Protagonist bricht aus seiner gewohnten Welt aus, erlebt verschiedene Abenteuer und kehrt am Ende mit veränderter Persönlichkeit zurück – ein Erzählschema, das schon antiken Mythen zugrunde liegt und sich heute besonders in der Dramaturgie von Drehbüchern wiederfindet. Das wäre nicht weiter problematisch, wenn einem beim Lesen nicht immer wieder der Bauplan penetrant vor Augen gehalten würde. Der steht an vielen Stellen nicht nur der Glaubwürdigkeit der Geschichte im Weg, sondern lässt auch kaum Platz für innovative Umwege. Und so werden weder der generationenverbindende Roadtrip noch die Coming-of-Age-Geschichte überraschend neu erzählt.

Am Ende seiner Reise erkennt auch Timur endlich, was man als LeserIn schon lange vor ihm verstanden hat: Es kommt im Leben nicht darauf an, möglichst „weit“ zu kommen. Und: Manchmal können auch die kleinen Geschichten von größter Bedeutung sein. Tarkan Bagcis kleine Geschichte über eine Freundschaft zwischen Jung und Alt hinterlässt dagegen – abgesehen von interessanten Einblicken in den Lokaljournalismus und einigen Fun-Facts zu Dosenöffnern – nur wenig bleibenden Eindruck. Dabei hätten viele Themen das Potenzial für mehr Tiefe geboten: Etwa der auf jungen Menschen lastende Druck, ein aufregendes und erfolgreiches Leben zu führen, der Verlust eines Elternteils in der Kindheit oder die erst ganz zum Schluss eingestreuten Rassismus-Erfahrungen des Protagonisten. Auch sprachlich bedient sich der Roman vielfach an floskelhaftem Material, das sich schon stark abgenutzt hat. Aufgefangen wird das nur durch den Humor, der auf Situationskomik, witzige Vergleiche und sarkastische Kommentare setzt. Doch auch der gerät an einigen Stellen ein wenig zu flach. Damit bleibt „Die Erfindung des Dosenöffners“ insgesamt lediglich ein seichter Roman aus der Kategorie der leichten Unterhaltungsliteratur.

Headerfoto © Lisa Balgenort

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