Stellwerk Magazin

Die Sprachnachricht – Eine Liebeserklärung

Vorwort

Die Sprachnachricht hat ein schlechtes Image und gilt vielen als Kommunikationsmittel, das Informationen unnötig lang ausbreitet. Worüber sich Empfänger:innen beschweren: zu lang, zu wenig Inhalt, es wurden einfach Gedanken abgeladen, ohne das umständliche, langwierige Abhören zu berücksichtigen. Warum der Wert von Sprachnachrichten jedoch an anderen Faktoren, als an ihrem Informationsgehalt gemessen werden muss, und warum ihr Versenden nicht egoistisch ist – eine Liebeserklärung an die Sprachnachricht.

Innenstadt: Die Frau mit den windzerfahrenen Haaren und dem sperrigen Kinderwagen hält ihr Handy in der Hand, ihr Daumen unten rechts auf dem Screen, etwas Abstand zum Kinn. Sie redet, weicht dabei Passant:innen, Fahrrädern, Mülltonnen aus, lacht, fährt sich durch die Haare. Das Aufnehmen von Sprachnachrichten geht schnell, viel schneller als mit zwei Daumen zu tippen. Die Sprachnachricht fängt das Quietschen der Räder ein, den Wind, die Gesprächsfetzen anderer Unterhaltungen. Die Sprachnachricht erzählt die Hintergrundkulisse mit.

Seit 2013 bietet der Messengerdienst WhatsApp seinen Nutzer:innen die Sprachnachrichtenfunktion an und mittlerweile lässt sich festhalten: Sie hat sich als Medium etabliert. Über WhatsApp werden täglich 200 Millionen Sprachnachrichten verschickt. In einer Umfrage des Bundesverbandes Digitaler Wirtschaft von 2019 gaben rund 70% der Befragten an, regelmäßig Sprachnachrichten zu versenden. Das Salzburger Startup Audvice hat sogar eine App entwickelt, die telefonische Teammeetings und E-Mail-Verkehr durch Sprachnachrichten ersetzt. Diese ermöglicht laut eigener Aussage effizienteres Arbeiten und bietet darüber hinaus die Möglichkeit für ein besseres Kennenlernen unter den Mitarbeiter:innen. Anstatt formelhafter E-Mail-Kommunikation hört man die Stimme seines Gegenübers. Die App wird mittlerweile von namhaften Unternehmen wie Red Bull oder ADAC genutzt. Dass dieses Medium sich auch am Arbeitsplatz durchsetzt und neue Kommunikationsformen zwischen Mitarbeitenden etabliert, spricht für seine Effektivität und Bedienerfreundlichkeit. Auch im Privaten Rahmen ist die Sprachnachricht ein Tool für flexibles Zeitmanagement. Sie lässt ihren Empfänger:innen die Wahl: Wann will ich die Nachricht abhören? Wann und wie will ich antworten? Eine Sprachnachricht weiß, dass sie wochenlang ungehört bleiben kann. Eine Sprachnachricht wartet.

Junge Erwachsene bezeichnen sich selbst als „Generation Telefonierangst“. Beliebte Memes mit Bildern von klingelnden Handyscreens zeigen Texte wie: „Ich, wie ich darauf warte, dass mein Handy aufhört zu klingeln, damit ich die Person fragen kann, was sie wollte“ oder: „Ich, wie ich dem Telefon beim Klingeln zugucke, bis ich den Anruf verpasst habe.“ Laut einer Umfrage der Onlinezeitung Futter ist der häufigste Grund für Telefonierangst die Überforderung, spontan reagieren zu müssen. Genau hier lässt die Sprachnachricht einem Raum. Die andere Person kann entscheiden, wann sie die Nachricht abhört. Manchmal kann sie schon erahnen, was gesagt wird. Manchmal antwortet sie trotz Zeitmangel, verfasst die Nachricht beim Schieben des Kinderwagens auf dem Weg zur Kita.

Trotzdem werden Sprachnachrichten häufig als Anzeichen für den Verfall von Kommunikation interpretiert, als egoistisches Mitteilungsbedürfnis und unwürdiger Ersatz für Telefonate. Sara Tomšić bezeichnet in der taz Sprachnachrichten sogar als „Ausgeburt des Egoismus. Ellenlanges Rumgelaber ohne Sinn und Verstand.“ Festzuhalten ist jedoch: Das, was für die E-Mail oder die SMS schon der Fall war, gilt auch für die Sprachnachricht. Ein neuer Kommunikationsmodus braucht bestimmte Umgangsformen, auf die man sich mit dem Gegenüber verständigen muss. Was das im besten Falle mit sich bringen kann: die Gewissheit und Vorfreude, dass eine Sprachnachricht wartet, dass sie im passenden Moment abgespielt werden kann; vielleicht ein Ratschlag einer Freundin für eine Situation, die längst nicht mehr aktuell ist, eine Art nachträglicher Beistand. Es geht bei Sprachnachrichten eben nicht nur um Information, sondern um Aufmerksamkeit und Anteilnahme und darum, das Gegenüber wissen zu lassen: „Ich habe dir zugehört, ich weiß, ich bin zu spät, ich bin trotzdem da.“ Sprachnachrichten sind ein Ausdruck großzügiger Kommunikation, sie beinhalten die stillschweigende Übereinkunft darüber, dass sie den richtigen Moment brauchen.

Wir verschicken einen Ausschnitt aus dem Alltag, verschicken Hintergrundgeräusche, eine aktuelle Stimmung. Wir sind nicht angewiesen auf Telefontermine, die wir wochenlang verschieben müssen. Wir müssen das Gesagte nicht kürzen oder runterbrechen, weil das Tippen so lang dauert. In Pandemiezeiten, in denen die Grenzen zwischen Privatem und Arbeit verschwimmen, in denen wir auf neue Tools und Treffpunkte angewiesen sind, in denen gerade Eltern überlastet sind, bieten Sprachnachrichten Freiraum. Sprachnachrichten sind lebendig, sie archivieren Stimmungen und Geschichten, sie speichern Gedanken und Ratschläge und Wünsche. Sprachnachrichten ermöglichen Anteilnahme. Eine Sprachnachricht ist ein Kommunikationsangebot, das Großzügigkeit und Nachsicht braucht.

Der Rekord für die längste Sprachnachricht liegt bei 3:36:37. Eine Schülerin erklärt ihrer Freundin die Hausaufgaben.

Headerfoto: Gilles Lampert auf Unsplash