Stellwerk Magazin

Ein Stoff der Stunde

Vorwort

Rafael Sanchez verdichtet am Schauspiel Köln John Steinbecks „Früchte des Zorns“ zu 135 stark gespielten Bühnenminuten. Der mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnete Roman spielt zur Zeit der Großen Depression in den USA und wurde als Dekonstruktion des amerikanischen Traums gelesen. Auch die Bühnenadaption beweist: Beißende Kapitalismuskritik ist nicht fruchtlos.

Besetzung:

Regie: Rafel Sanchez Bühne: Thomas Dreißigacker Kostüme: Maria Roers Komposition und musikalische Einrichtung: Pablo Giw Dramaturgie: Stawrula Panagiotaki

Es spielen: Birgit Walter (Grandma), Katharina Schmalenberg (Ma), Seán McDonagh (Tom Joad), Stefko Hanushevsky (Pa), Justus Maier (Al, Toms Bruder), Kristin Steffen (Rose, Toms Schwester), Elias Reichert (Connie, Roses Freund), Martin Reinke (Casy der Priester) und Pablo Giw (Live-Musik)

Eine grauhaarige Dame sitzt mit Jeansklamotten und Cowboyhut bekleidet auf einem klapprigen Gartenstuhl, Whiskyflasche und ein Gewehr fest in der Hand. „Ihr dreckigen Schweine! Ich bleibe hier, das ist mein Land, hier bringt mich niemand weg!“ Der Zorn der Großmutter kann die Familie Joad nicht aufhalten. Nachdem sie die Grandma mit Alkohol mundtot gemacht und samt Hab und Gut auf einen schrottreifen Laster verfrachtet hat, lässt sie das nicht mehr heimische Oklahoma hinter sich. Umdrehen ist zu keinem Zeitpunkt eine Option: Ihr Land gehört jetzt der Bank, ihr Haus wurde von einem Traktor zerstört. Hunderttausende „Okies“ sind ebenfalls auf dem Weg Richtung Westen, ins angeblich gelobte Land Kalifornien, wo Orangen und Trauben wachsen.

Nach der Digital-Premiere im Winter 2020 bringt Hausregisseur Rafael Sanchez Anfang des Jahres John Steinbecks „Früchte des Zorns“ (1939) in einer Bearbeitung von Autor petschinka auch analog auf die Bühne des Depot 2. Der mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnete Roman spielt zur Zeit der Großen Depression in den USA und beschreibt dort die Vertreibung kleiner Landpächter durch Dürre, Industrialisierung der Landwirtschaft und Spekulation. Der Stoff beruht auf wahren Begebenheiten. Im Fokus steht die Geschichte der zwölfköpfigen Familie Joad, die nach einem besseren Leben sucht. Steinbeck arbeitete selbst als Wanderarbeiter auf dem Bau, in Fabriken und auf Farmen. Dies ermöglichte ihm in seinem Roman dicht und genau ins Innere der Erlebnisse der Flüchtlingsmassen vorzudringen. Steinbecks Werk wurde vor allem für seinen sozialen Realismus und seine genau recherchierte Schilderung der damaligen Umstände gepriesen. Nach der Veröffentlichung hagelte es jedoch zuerst Kritik. Sein Roman verkörpere eine kommunistische Haltung. Die Folge: Seine Beschreibungen der desaströsen amerikanischen Lebensbedingungen wurden zensiert. Kurze Zeit später verfilmte John Ford das Buch und ein knappes Vierteljahrhundert später bekam Steinbeck den Literaturnobelpreis.

Tik, tak, tik, tak. Noch 2.000 Kilometer bis Kalifornien. Die Mitglieder der neunköpfigen Familie sitzen ruckelnd auf ihren Stühlen, ein Motor brummt, der Ton ist rau. Hin und wieder sind Schreie der Joads und Schüsse der Polizei zu hören. Flammen lodern auf der Bühne. Der Ort der Familie ist die Vorbühne, hier werden Streitigkeiten ausgetragen und hier sitzt man wackelnd im Truck, der über die Route 66 gen kalifornischen Westen donnert. Die Außenwelt ist auf die dahinterliegende Stufenbühne verbannt, die durch einen Vorhang über Kopfhöhe abgetrennt ist. Die Szenen spielen im Depot selbst, aber auch unter den Bühnenpodesten und auf dem umliegenden Gelände des Carlswerks. Dabei werden die Figuren während einzelner Szenen von einem Kamerateam gefilmt und das Geschehen live auf die Leinwand – bzw. den Vorhang – übertragen. Die so voneinander abgeteilten Spiel-Ebenen verbinden Realität und Traum, Leben und Tod, Armut und Reichtum, Freude und Schmerz zwischen den Figuren und den Welten. Der Vorhang ist das zentrale Spiel-Element in diesem bewusst kargen Theater. Das Resultat: eine gelungene crossmediale Darstellung.

Katharina Schmalenberg als Ma und Ensemble © Krafft Angerer Katharina Schmalenberg als Ma und Ensemble © Krafft Angerer

Fesselnde Inszenierung

Die Szenen der Familie Joad wechseln mit Passagen, in denen der brillante Martin Reinke das Geschehen monologisch beschreibt und Live-Musiker Pablo Giw Reinkes Erzählungen mit dem Saxophon begleitet. Dadurch erzeugt Sanchez eine Spannung zwischen den Szenen; die Blasmusik verbreitet zusätzliches Dreißigerjahre-Flair. Mit der Zeit kommen immer mehr Figuren hinzu und die Handlungsstränge verdichten sich. Auf ihrer strapaziösen Reise müssen die Joads immer wieder zusammenrücken – ob zusammengepfercht im Auto oder in überfüllten Arbeitslagern. Ihr beschwerlicher Weg ist jedoch nicht nur von Ausbeutung, Gewalt und Ablehnung, sondern auch von Solidarität, Gemeinschaft und Nächstenliebe geprägt. Die Joads erfahren schmerzhaft, was es bedeutet, in den Arbeitskampf zu gehen, um für ein besseres Leben und bessere Löhne einzustehen. Die Jobsuche ist desolat. Zuerst streiten sie sich mit den Sheriffs um 25 Cent, später um 5 Cent für 20 Kisten. Es gibt, wenn überhaupt, nur Jobs zu Dumpinglöhnen. Zu oft werden Früchte eher vernichtet, als dass man sie den Hungernden überlasst: „In den Herzen der Menschen wachsen die Früchte des Zorns.“
Die Handlung nimmt mit zwei Szenen besonders an Fahrt auf: Es geht um Anfang und Ende des Lebens. Ausführlich zeigt Sanchez die Beerdigung der Großmutter (im Gelobten Land) und die Geburt von Roses Kind, das tot zur Welt kommt. Die treibende Kraft der Inszenierung sind die tapferen Frauen: Die stärkste Performance legen Birgit Walter als beeindruckende, kraftvolle Grandma und Katharina Schmalenberg als starke, hoffnungsvolle und liebende Ma auf das Parkett. Das zeigt auch das skurrile Finale: Nachdem Rose (Kristin Steffen) ihr Baby verloren hat und das behelfsmäßige Zuhause von den Winterregen überflutet wurde, findet sie mit ihren Eltern Zuflucht in einer Scheune. Dort haben auch ein Junge und sein verhungernder Vater Unterschlupf gefunden. In einem Akt der Menschlichkeit weist die Mutter Rose an, dem älteren Mann die Brust zu geben. Das Stück beginnt und endet mit Angst – ein nie enden wollender Kreislauf.

Jede Figur steht für mehr als sie selbst

Die Dekonstruktion des amerikanischen Traums steht im Zentrum des Romans und folglich auch seiner szenischen Umsetzung. Vom Tellerwäscher zum Millionär, das ist für immer mehr Menschen eine hohle Illusion. Sanchez zieht in seiner Inszenierung Vergleiche zu der heutigen Situation in den USA, wo vor allem arme Menschen unter den Folgen der Corona-Pandemie und den damit einhergehenden wirtschaftlichen Problemen leiden. So sind die Todeszahlen in den afroamerikanischen Communities besonders hoch und Menschen mit schlecht bezahlten Jobs verlieren ihre Arbeit weitaus häufiger als andere in dieser ökonomischen Krise. Das ist jedoch nicht nur ein US-amerikanisches Phänomen, sondern spielt sich vergleichbar auch in anderen Ländern ab. Diesem Umstand Aufmerksamkeit zu verschaffen ist die Leistung von Sanchezʾ Inszenierung. Die Joads stehen für viele Migrant:innen und jede Figur steht für mehr als sie selbst. Die Menschen hoffen, neu anfangen zu können, wo es Arbeit für alle gibt. Entwurzelung, Hunger, Angst, Hoffnung und Enttäuschung – all das spiegelt sich an diesem Abend wider. Die Emotionen der Figuren werden durch das Ensemble beeindruckend vermittelt. Die Zuschauer:innen begeben sich in eine emotionale Konfrontation – wünschenswerterweise mit sich selbst, sicherlich aber mit der Gesellschaft, in der wir leben. Ein Stoff der Stunde.

Header- und Vorschaufoto: Stefko Hanushevsky als Pa, Foto: © Krafft Angerer

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Hier findet ihr aktuelle Vorstellungstermine von „Früchte des Zorns“ auf der Website des Schauspiel Köln