Stellwerk Magazin

Rezension Ruhrorter: Zwei Himmel

Vorwort

Der Raum, in dem wir leben, ist im Sinne Foucaults eine Art “Gemengelage von Beziehungen, die Platzierungen definieren, die nicht aufeinander zurückzuführen und nicht miteinander zu vereinen sind.” (Foucault, Andere Räume, in: Aisthesis, S.38) Aber es gibt auch diese anderen Räume: Es gibt jene Räume, die zu allen anderen in Beziehung treten können. Diese Heterotopien können vereinen. In einer Zeit der Nähe, der Ferne und des Nebeneinanders stellen diese Räume eine unmittelbare Erfahrung her.

Ruhrorterstraße 110, 6. Mai 2014, 19.30 Uhr: Es ist kalt in der großen, abgedunkelten Lagerhalle im vierten Stock. Einst die Adresse der Ladenkette Schätzlein, dann Lager- und Verwaltungsort von Karstadt und der Stadt Mülheim, in den 1990er Jahren schließlich Flüchtlingsheim, ist die Nummer 110 heute für etwas Anderes bestimmt. Eng beieinander sitzt das Publikum und schaut in den riesigen Raum, der aufgrund der zwei Säulenreihen fast schon an eine Basilika erinnert. Es gibt der Atmosphäre etwas Sakrales. Auch in dieser Halle waren damals Flüchtlinge untergebracht. Der Boden lässt noch die Umrisse der Parzellenräume der damaligen Bewohner erahnen. Die frühere Aufteilung des Raumes wird von einer Spur aus Sand nachgezeichnet. Eine Treppe am hinteren Ende des Raums lenkt den Blick des Zuschauers nach oben auf die Balustrade. Zwischen den zwei hinteren Säulen ist eine Leine gespannt. An ihr hängen Strümpfe, die den Treppenaufgang flankieren, in der Mitte des Raumes liegt wie verloren ein Koffer, nicht weit von ihm entfernt ein einfacher, umgeworfener Holzstuhl.

Der dunkle Bote

Plötzlich schiebt sich eine auf dem Boden liegende Türe beiseite, aus dem Loch steigt ein Mann im schwarzen Anzug, ein Bote, denn er hält einen gelben Umschlag in der Hand. Mit ihm betritt man die Bühne, er steckt den Brief in den Kofferschlitz, dann geht er zu dem umgekippten Stuhl, richtet ihn auf und setzt sich darauf. Er hat seinen Auftrag erfüllt, die Botschaft überbracht. Doch was für ihn das Ende ist, ist für Andere erst der Anfang.

Ein dunkler Anfang, denn der gelbe Umschlag bedeutet: Abschiebung. Während der Bote verschwindet, tauchen vier Figuren aus der Dunkelheit auf, die an diesem Abend an fremde Orte führen werden, an ihre Orte, die so intim sind, dass man zugleich Vertrauter und Fremder ist. Vertrauter, weil die Angst vor dem Fremden irgendwie schon einmal da war. Fremder, weil die Vertrautheit dieser Figuren mit der konkreten Fremde als Flüchtling, als Nicht-Heimischer im Hier und Jetzt doch so unvorstellbar ist.

An was denkst du, wenn du nicht einschlafen kannst?

Dabei erzählen Sabrina, Marvin, Reem und Peiman ihre Geschichten ohne laute Worte. Es wird von einer Lichterfigur erzählt, deren Licht jedoch nicht sehend macht, und im Gemurmel der doch stets Hoffenden zu erlischen droht. Von einem Paar, das, dem Publikum zugewandt, in dem routinierten Reichen der Waschschüssel Halt zu suchen scheint. Von einer Frau, die mit einer Taschenlampe durch die Dunkelheit schreitet und nach etwas sucht, nach ihrer Familie vielleicht, nach Geborgenheit, nach einem sicheren Ort. Von einem Mann, der seine Stimme nicht der Sprache leiht, um sich zu erklären, sondern der Musik, der Melodie, in der er zu seinem Rhythmus findet.

Es sind rätselhafte Bilder mit Figuren, aus deren starren Gesichtern keinerlei Stimmung ablesbar ist. Allein durch Gesten wird erzählt. Besonders stark ist die Szene mit dem wartenden Mann im Regenmantel, der, dem Zuschauerraum zugewandt, wie erstarrt auf einem Stuhl sitzt, neben sich den Koffer, und von einer hinter ihm stehenden Frau mit der Gießkanne wie eine Blume gegossen wird. Ein Regen, der nichts wachsen zu lassen scheint. In derselben Position sitzt dem Publikum kurze Zeit später auch eine Frau gegenüber, in absoluter Dunkelheit. Ihr Gesicht wird von einer Taschenlampe angeleuchtet. Mit ihrem ausgestreckten Arm versucht sie sich immer wieder vor dem blendenden Licht zu schützen. Die einzige Wärme, die sie erfährt, ist der Schatten ihrer Hand, der über ihr Gesicht streichelt. So wenig wie das Wasser etwas wachsen lässt, macht das Licht sehend.

Termine /// ZWEI HIMMEL 19.30 Uhr /// PALIMPSEST ab 21.00 Uhr /// 13. / 14. / 16. / 17. Mai

Es ist jene spannende Verschiebung von Sprache und Körper, von Licht und Wasser, auf die die Inszenierung von Adem Köstereli setzt, um sich nicht in Klischees und pathetischen Erklärungsversuchen zu verlieren. Das Medium der Sprache nimmt nicht länger eine vermittelnde Funktion ein, es geht nicht darum, das, was gesprochen wird, in seinem Wortsinn zu verstehen. Indem die Vier in einer wunderbaren Gruppenszene zum Ende hin in ihren Sprachen vor sich hinsprechen und sich auch zuzusprechen scheinen, entsteht ein Dialog, den das Publikum zwar hören, aber nicht verstehen kann. Sie sprechen marokkanisches und ägyptisches Arabisch, Persisch und Serbo-Kroatisch. Vertraute und Fremde zugleich.

Schuhe ohne Träger

Die leisen und ruhigen Bewegungen der Körper kulminieren zum Beginn der Schlusssequenz in der ruhigen Lesehaltung eines Mannes, der, von Kerzen umringt, auf einem Stuhl sitzt und in gebrochenem Deutsch ein Gedicht von Jean Genet vorträgt: Un Chant d'Amour - "Schäfer, steige herab vom Himmel, wo deine Schafe schlafen...". Doch das Liebeslied wird von einem anderen Lied übertönt - "Land of missing people"1komponiert und gespielt von Nihad Hrustanbegovic. Die anderen kommen ebenfalls auf die Bühne. Mehrere Schubkarrenfuhren mit Schuhen werden neben den Säulenreihen entleert, die Schuhe werden paarweise aufgereiht, die hinteren Fenster werden zugenagelt, von der Treppe, die zur Empore führt, flattern gelbe Briefe herunter. Der Bote erscheint in einem weißen Anzug und schaut sich das wilde Treiben auf der Bühne an. Eine Erlöserfigur, die dem Ort wieder Ruhe bringen möchte? Am Ende steht nur noch eine Frau auf der Bühne. Mit dem Rücken zum Publikum schaut sie auf die Reihe der Schuhpaare, die allesamt in Richtung Treppe weisen. Diese Schuhe haben keine Träger mehr.

Es sind Bilder, die man irgendwo vielleicht einmal gesehen, gelesen, von denen man einmal gehört, die man aber in den seltensten Fällen selbst erlebt hat. Es sind Erinnerungen, die nicht unsere sind, aber uns dennoch durch ZWEI HIMMEL nahegebracht werden. Spuren werden aufgezeigt, die im ganzen Gebäude noch zu verfolgen sind. Vielleicht wird die Frau mit den Schuhen die Nächste sein, die gehen muss? Das Licht geht aus. Sie geht nach hinten an den Stuhl am Treppenaufgang. Dort zündet sie ein Licht an und verlässt die Bühne. Was bleibt, ist ein Licht, das gen Himmel steigt, um am Ende doch zu erlischen.

Fotos: Rudi Grittner (Theater an der Ruhr)

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