Stellwerk Magazin

Poetica²: Schreibwerkstatt Lyrik lehren

Vorwort

Internationales Kolleg Morphomata: 27. Januar 2016 Poetica² - Literarische Werkstatt mit Ilma Rakusa und Aleš Šteger.

Dem einen ging nach zwölf Stunden das Kölsch kaputt, die anderen verordneten eine vorübergehende Herz-Diät und zwischenzeitige Reim-Abstinenz. Mit Marcel Beyer und einem Duo aus Ilma Rakusa und Aleš Šteger begegneten mir im Wintersemester 2015/16 zwei ganz unterschiedliche Arten, Lyrik zu lehren. Eindrücke aus Literarischen Werkstätten.

Darüber, ob Schreiben erlernbar ist oder gelehrt werden sollte, wird im deutschen Feuilleton gern und viel gestritten. Während an amerikanischen Universitäten creative writing workshops gang und gäbe sind, hielten sich in Deutschland lange Zeit die Vorstellungen von Naturgabe und Originalgenie. Und selbst heute noch, wo auch hierzulande immer mehr Studiengänge für literarisches Schreiben eingerichtet werden, stehen sie permanent unter Beschuss. Die einen sagen, in Leipzig, Hildesheim & Co. lerne man zwar das Verfassen fehlerfreier Texte, nicht jedoch die Behandlung relevanter Stoffe. Die anderen sagen, junge Autoren bräuchten einen geschützten Raum zum Ausprobieren, sie bräuchten Mentoren und eben deshalb: Institutionen.

Richtige Phrasierung

Diese Debatte1Zuletzt entfacht von dem Kulturjournalisten und Lektor Florian Kessler in seinem zu Hauf zitierten ZEIT-Artikel vom Januar 2014: http://www.zeit.de/2014/04/deutsche-gegenwartsliteratur-brav-konformistisch. mutet mir immer ein wenig seltsam an. Denn lange, bevor ich auf die Idee gekommen wäre, die Autorenfeder in die Hand zu nehmen, studierte ich an einer Institution, die seit Jahrzehnten fest davon überzeugt ist, durch sie könne Kunst erlernt werden. An der Hochschule für Musik und Tanz Köln lehrte mich mein Klavierlehrer die richtigen Etüden, mein Gesangslehrer die richtige Phrasierung, mein Tonsatzlehrer die richtige Harmonisation – nicht selten mit schulmeisterlicher Härte und der Forderung nach Disziplin, Fleiß und Ausdauer. Selbst, wer in den Fußstapfen Karl-Heinz Stockhausens elektronische Komposition studieren will, kommt um die epochengetreue Interpretation einer Bach-Invention kaum herum. Und wer diese in einer Woche nur nachlässig geübt hatte, flog auch schon mal nach zehn Minuten aus dem Einzelunterricht. Ganz anders als in der Literatur liegt die Ausbildung deutscher Nachwuchsmusiker – zumindest was die nicht-populäre Musik betrifft – ganz selbstverständlich in der strengen und fleißfordernden Hand von Institutionen und Traditionen. Self-made Wunderkinder, Autodidakten und Spätzünder sucht man hier nahezu vergeblich.

Wer allerdings statt der Geige den Stift in die Hand nimmt, beginnt selten mit der ehrfürchtigen Nachahmung eines Hölderlin-Gedichts oder der möglichst originalgetreuen Rezitation eines Goethe-Klassikers. Für die Schreibwerkstatt bei Marcel Beyer, die der Schriftsteller am 6. November 2015 im Rahmen seiner TransLit-Poetikprofessur an der Universität zu Köln leitete, durfte alles eingereicht werden, was im entferntesten an ein Gedicht erinnerte – und zumindest annähernd Beyers Schreibaufgabe erfüllte, die Fremdheit der Sprache zu erkunden. Diese Schreibwerkstatt nun war für mich Etüdengeplagte die erste ihrer Art. Und sie überraschte mich durch ihre Kritikermilde. Unser Tag mit Marcel Beyer begann um 10 Uhr mit einem zerknitterten Poeten, einem eifrigen und einem schweigsamen Germanistikdozenten sowie fünfzehn fleißigen Jung- und Jüngstautoren. Er endete zwölf Stunden und zehn leere Pizzakartons später in einem Brauhaus im Weyertal. Durchweg prägte die Atmosphäre dieser Werkstatt ein Motto, das man in etwa wie folgt charakterisieren könnte: "Ach, Sie schreiben auch? Sie haben Ambitionen? Das ist aber schön! Lassen Sie sich nicht entmutigen! Das hier ist Literatur – alles ist möglich!" Nicht, dass das jemand zu uns gesagt hätte. Aber so war eben mein Gefühl. Was uns am Ende des Tages von dieser Schreibwerkstatt blieb? Einige der zarten, nicht entmutigten Pflänzchen, erzählen sich bis heute jene, unbestreitbar erzählenswerte, Anekdote: Während der Köbes im Weyertaler Brauhaus noch mit dem Austeilen von Kölschstangen beschäftigt war, leerte Marcel Beyer sein Glas in einem Zug, wandte sich erneut an den Köbes und sagte – bierernst: "Entschuldigung! Ich glaube, mein Kölsch ist kaputt. Kann ich ein neues haben?"

"Es gibt Reime, die heute einfach nicht mehr funktionieren." (I.Rakusa)

"Gedichte brauchen etwas Konkretes. Von großen Dingen halte ich nichts. Wir müssen präzis sein." (Ilma Rakusa)

Im Rahmen der Poetica² besuchte ich meine zweite, etwas andere Schreibwerkstatt. Am 27. Januar 2016 las ich gemeinsam mit elf weiteren Studierenden der Universität zu Köln dem Kurator der Poetica² Aleš Šteger und der Schweizer Autorin Ilma Rakusa eigene Gedichte vor. Der Richterspruch folgte unmittelbar, ohne Umschweife. "Gedichte brauchen etwas Konkretes. Von großen Dingen halte ich nichts. Wir müssen präzise sein.", schärfte uns Ilma Rakusa immer wieder ein. Und tatsächlich war die Schweizer Literaturwissenschaftlerin, Schriftstellerin und Übersetzerin so sorgsam, reflektiert und prägnant in ihrem Urteil, dass sich wohl jeder im Raum ihr gegenüber nur banal und plump vorkommen konnte. Kaum hatte sie einen durch ihre kleinen runden Brillengläser ins Auge gefasst, schon hatte sie einen durchschaut. Durchschaut und beeindruckt hat sie uns. Alle. Zutiefst. Obwohl oder gerade weil sie auch Sätze sagte wie: "Das ist zu platt für ein Gedicht." oder "Es gibt Reime, die heute einfach nicht mehr funktionieren." Wessen Gedicht von Herzen, Segeln und Sehnsüchten getränkt war, dem verordnete sie eine vorübergehende Herz-Diät für sein weiteres Schreiben. Und wer Herz auf Schmerz reimte, dem verordnete sie obendrauf noch eine vorübergehende Reim-Abstinenz. Den meisten aber verordnete sie: mehr Reibung, mehr Brüche und immer wieder: mehr Präzision. Natürlich bin ich nicht mehr so naiv, zu glauben, dass gute Gedichte mit möglichst einfachen Rezepten zu schreiben sind. Es war vor allem die respektvolle Ehrlichkeit, mit der uns Ilma Rakusa und auch Aleš Šteger begegnet sind, die mir den Tag mit ihnen so wertvoll machten. Und zu respektvoller Ehrlichkeit gehört eben auch, respektvoll-ehrlich zu sagen, was Mist ist.

Schreiben in der Übezelle?

Was bleibt? Neben dem Gefühl von Inspiration – nach dem schließlich jeder ab und an hungert, weil es sich jedes Mal wieder zu schnell verflüchtigt – vor allem die Erkenntnis, dass man sich für Gedichte auf den eigenen Hosenboden setzen muss. Eine Erkenntnis, nach der sicher niemand hungert, die sich aber mindestens genauso schnell wie die Inspiration immer wieder verflüchtigt. Womit wir wieder bei der Musikhochschule wären. Die meiste Zeit seines Studiums verbringt ein Musikstudent allein in einer Übezelle. Übezellen sind schallisolierte, von innen verschließbare Räumen mit nichts als einem Klavier, einem Notenständer und einem Spiegel (zum Überprüfen der Körperhaltung am Instrument). Ob ich mir eine Übezelle zum Schreiben wünsche? Ich weiß nicht so recht. Mit Übezellen verbinde ich eher ein beklemmendes Gefühl – einerseits. Andererseits werden in Übezellen auch Lebensträume verfolgt, Lebensentscheidungen getroffen und sicher auch Kinder gezeugt. Vielleicht setz ich mich mal wieder rein, in eine Übezelle – diesmal zum Schreiben. Oder einfach nur für ein klein wenig von diesem Gefühl der Inspiration.

Fotos: Silviu Guiman

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