Stellwerk Magazin

Rezension VON GESTERN UND MORGEN SPRECHEN

Vorwort

Am 3. Juni feierte das Theaterstück ALS GESTERN JEDES HEUTE NOCH DAS MORGEN WAR UND JEDES HEUTE MORGEN SCHON ZUM GESTERN WIRD im ehemaligen Woolworth-Gebäude in der Innenstadt von Mülheim an der Ruhr Premiere, für Oktober 2016 ist eine an die Thematik des Stücks angelehnte Installation geplant.

Weitere Termine: 17./20./21. Juni, 01./02. Juli, jeweils um 19:30 Uhr.

Als Ein Versuch über das Absurde weist sich Albert Camus’ Essay über den Mythos des Sisyphos in der deutschen Übersetzung im Untertitel aus. Camus spricht darin Sisyphos, dem als Strafe die immer wieder fehlschlagende Aufgabe des Hinaufrollens eines Felsens auf einen Gipfel obliegt, Freiheit zu. Die so absurd scheinende Selbstbestimmung entspringt der Spannung aus der Erkenntnis des sinnentleerten Handelns und der Revolte gegen diese Sinnlosigkeit durch die Hinnahme derselben: Sisyphos akzeptiert die ewig gleiche, unlösbare Aufgabe und kann sich in dieser Annahme selbst verwirklichen, die wiederkehrende Herausforderung für sich gestalten. "Sein Schicksal gehört ihm. Sein Fels ist seine Sache."1Albert Camus: Der Mythos des Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde. Reinbek 62004, S. 159.

Das ehemalige Woolworth-Kaufhaus in der Innenstadt von Mülheim an der Ruhr ist in diesem Jahr Schauplatz für das Theaterstück des Projektkollektivs RUHRORTER. Der zentrale Umstiegspunkt des Nahverkehrs, die Haltestelle "Stadtmitte", liegt dem seit Jahren leer stehenden Gebäude gleichsam zu Füßen, rundherum sind Cafés, ein Hotel und Geschäfte situiert. "Bitte nicht über die Bühne gehen", weist Regisseur Adem Köstereli die hereingebetenen Zuschauer an – eine Bühne, die auf allen drei Ebenen der Inszenierung – hier auch wörtlich als Etagen zu verstehen – kaum vom Publikumsraum zu trennen ist, und damit eher ein Identifikationsangebot mit als ein sonst gängiges Distanzierungsmoment zu den Darstellern bietet. Auch die Welt außerhalb des Theaterstücks ist ganz nah: Nur eine Schaufensterfront trennt die Kunst vom Leben; immer wieder bleiben vorbeischlendernde Fußgänger stehen und schauen unbefangen dem Treiben im Inneren zu. So spielt das Stück selbst dann zuweilen auch draußen.

Gestern Heute Morgen

Mit der Zeile ALS GESTERN JEDES HEUTE NOCH DAS MORGEN WAR UND JEDES HEUTE MORGEN SCHON ZUM GESTERN WIRD trägt die Aufführung das Sisyphos'sche Dilemma einer zirkulären Wiederkehr bereits in ihrem Titel. Auch der erste Auftretende der elf Geflüchteten, mit denen das Kollektiv arbeitet, scheint dieses Echo der Zeit, das Alltägliche, gänzlich verinnerlicht zu haben: Er öffnet eine Tür nach außen, atmet tief die Stadtluft ein, setzt sich an seinen – wohl vom Kaufhausdasein übrig gebliebenen – Empfangstresen, trinkt Wasser, knabbert genüsslich Kartoffelchips. Als eine weitere Darstellerin an der geschlossenen Schaufensterseite um Einlass bittet, reagiert er nicht. Also wartet sie und wird so zum Kopf einer ganzen Schlange von Wartenden, die sich hinter ihr in eine Linie einreihen. Irgendwann bricht jemand die Reihe, geht zur Tür und betritt die Bühne im Erdgeschoss – um dort weiter zu warten. Einen Warteraum hat das Publikum jetzt vor sich. Einige der restlos grau in grau gekleideten Wartenden haben ein Alleinstellungsmerkmal dabei – ein Notizbuch, eine Handtasche, ein gestricktes Seil, ein Strauß Blumen, eine Thermoskanne. Alle sind sie Individuen, die sich schwerlich kennen, alle sind sie aber im Moment des Wartens ununterscheidbar und vereint. Niemand von ihnen kann die passende Wartemarke zu den aufgerufenen Nummern vorweisen, keiner vermag auch nur die Aufmerksamkeit des Türöffners und Verantwortlichen zu erregen. Dafür aber entspinnen sich zwischen den Wartenden Berührungspunkte: Hier werden Zettel aus dem Notizbuch getauscht und die Blumen weitergegeben, dort wird das Seil als Schlinge an einen Hals angepasst. Nach einer tumultartigen Auktionsszene hebt aus den Reihen jemand zum Schwur an und ist der erste, der seinen Weg in die zweite Etage antritt. Wie in der anfänglichen Schlange folgen alle, auch das Publikum.

Dunkelkammer

Die Treppe führt hinauf ins Dunkle. Man tappt in einen fensterlosen, mit Teppich ausgelegten Raum, der einen in seiner Dumpfheit zu verschlucken droht. Das Auge muss sich anstrengen, um zu erkennen. Dann erscheint in der Dunkelkammer langsam ein Bild: Schattenumrisse lassen ein Klavier erkennen, flankiert von Menschen. Künstliches, immer heller und lauter werdendes Scheinwerferlicht durchbricht die drückende Stille und hebt das Bild aus seiner Latenz. Eine Frau sitzt auf einem Klavier. Ähnlich einer Barsängerin. Und ihr doch absolut unähnlich. Denn sie hält starr und ernst blickend einen Strick in der Hand, der um den Hals eines Mannes gelegt ist – ein Nachtalb? Immer wieder kippt die Frau zur Seite, verfällt in traumähnliche Zustände, immer wieder richten stützende Hände sie auf, lassen sie für kurze Zeit erwachen – dann erwacht sie plötzlich nicht mehr und alle Figuren um sie herum fallen ebenfalls zu Boden. Dem Traumbild entsteigen nun unterschiedlichste Figuren, die den Rahmen überschreiten und ein räumliches und zeitliches Off entstehen lassen, das immer wieder neue Narrative produziert.

Distanzen

Mit einem Blumenstrauß in den Händen durchschreitet ein junges Mädchen das Menschenmeer. Sie ist auf der Suche – doch nach was, nach wem? In einer uns fremden, in ihrer Sprache singend wandert sie durch den Raum, bleibt schließlich bei einem der vielen auf dem Boden liegenden Menschen stehen und legt ihm den Strauß auf die Brust. Eine Todesszene, die sich im nächsten Moment in eine Auferstehung wandelt. Man sieht ein sich leise rufendes und suchendes Paar: Mohammad? Mariam? Mohammad? Mariam? Doch sie können einfach nicht zusammenkommen. Zuviel steht zwischen ihnen. Links und rechts neben dem Klavier kauernd können sie nur über die Ferne hinweg kommunizieren. Der Klang der Stimmen ist jedoch so zärtlich, so ruhig, so tröstend, dass keine noch so große Distanz an der Liebe zweifeln lässt. Ein Hoffnungsschimmer.

Komische Alltäglichkeiten

All die Schwere der Distanz, der Angst, der Alpträume schafft es einfach nicht, die Hoffnung und Lebensfreude zu zerstören. Mit einer fast schon spielerischen Leichtigkeit, die doch so kraftvoll ist, wird die Schwere ausgehöhlt. Ein Mann haut voller Elan, wenn auch total schief, in die Tasten des Klaviers und singt, wenn auch keinen Ton treffend, voller Inbrunst. Eine Frau startet immer wieder vergeblich den Versuch, sich von einem Mann Feuer für ihre Zigarette geben zu lassen. Just in dem Moment, wo das Feuer die Zigarette fast berührt, erlischt es. Ein komisches Scheitern. Ein Mann versucht, auf einem einfachen Stuhl Platz zu nehmen. Der bewegliche Körper kann alle möglichen, verrenkten Positionen einnehmen, aber das normale Sich-Hinsetzen mag einfach nicht funktionieren. Aber was ist schon normal?

Aussichten

Plötzlich erklingt die wunderschöne Stimme der Frau auf dem Klavier. Sie singt in einer uns fremden Sprache. Sie hat sich vom Nachtalb befreien können. Der ganze Raum füllt sich mit einem Gesang, der jeden Abgrund überwinden kann. Auch der Körper möchte es der Stimme gleich tun, will die Abgründe überwinden – aber dafür braucht es helfende Hände. Vier sich gegenüberstehende Figurenpaare reichen sich die Hände, stehen eng beieinander, damit sie die Frau vom Klavier auffangen können. Doch sie schafft es nicht, traut sich vielleicht nicht. Auch der Mann, der nun auf seinem Stuhl steht, versucht den Absprung immer wieder. Die auffangende Menschenkette rennt zwischen Klavier und Stuhl hin und her, versucht immer wieder lauthals, zum Sprung zu ermuntern, aber vergeblich.

Dann dreht sich das Klavier. An seine Rückseite gedrückt liegt eine Frau mit einem Blumenstrauß. Sie ist tot. Die Menschenkette hat nun etwas zum Tragen gefunden und wird zum Leichenzug, der die Dunkelkammer durch einen schwarzen Vorhang nach hinten verlässt. Die hoffnungsvollen Rettungsversuche haben sich in ihr Gegenteil verkehrt. Eine Frau mit Tasche überreicht dem Mann auf dem Stuhl einen Brief. Vielleicht eine Todesnachricht? Er liest den Brief, schmeißt ihn zu Boden und rennt ebenfalls hinaus. Der Türöffner vom Anfang schreitet durch den nun verlassenen Raum, hebt den Brief auf und überreicht ihn einem Mann aus dem Publikum, mit der Bitte, jenen Brief laut vorzulesen:

Es wird heiß werden und es wird kalt werden. Wieder heiß und wieder kalt. Es wird wolkig sein und auch klar, blau und grau.

Es wird ein Flüstern in der Erde sein und aus der Erde heraus wird es wachsen, bis weit in die Landschaft hinein, die Felder, Wiesen und Wälder. Die Gräser werden sich neigen und die Blätter rascheln im Wind. Es wird in die Wipfel der Bäume wachsen, und noch in den Gesang der Vögel, die vorüberfliegen. Und dann fällt es vom Himmel wieder zurück, in die Schritte der Spaziergänger, die sich umarmen und ängstlich an den Händen halten, bis sie ganz eingegangen sind in die Landschaft.

Es wird ganz still sein. Totenstill. Trocken wird es sein, sehr trocken. Es wird Sonnenstrahlen geben bis ins Herz. Und Nebelfelder zum Ruhen. Und eine Feuchtigkeit bis unter die Haut. Es wird Regen geben.

Der Himmel auf Erden

Auch das Publikum tut es dem Leichenzug gleich, verlässt die Dunkelkammer durch den schwarzen Vorhang, betritt ein schmales Treppenhaus, das nach oben führt. Der höchste Raum ist nun erreicht. Er ist weit und groß und dem Himmel am nächsten, doch es riecht: nach Erde. Der ganze Boden ist mit Erde ausgelegt. Im hinteren Teil ist ein Baum zu sehen, der nicht Früchte, sondern Schuhe trägt. Die letzten Sonnenstrahlen scheinen durch die große Fensterfront. Es ist eine geradezu sakrale Atmosphäre, die einen umfängt. Orgelmusik erklingt. Alle Figuren tragen nicht mehr schwarz, sondern weiß. Sie sind barfuß, fühlen die Erde auf ihrer nackten Haut. Sie suchen Halt – auf und in der Erde. Immer wieder wechseln sie ihre Positionen, buddeln ihre nackten Füße ein und aus – ein permanentes Verpflanzen und Einpflanzen. Es ist anstrengend, das kann man sehen – aber das Ankommen, das Einpflanzen ist dafür umso schöner. Es zaubert ein hoffnungsvolles Lächeln auf ihre Gesichter.

"Jeder Gran dieses Steins, jedes mineralische Aufblitzen in diesem in Nacht gehüllten Berg ist eine Welt für sich. Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen." 2Albert Camus: Der Mythos des Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde. Reinbek 62004, S. 160.

Der Szenerie erwächst ein Dialog zwischen zwei Figuren. Es sind Mohammad und Mariam. Sie haben ihre Schuhe bereits vom Baum gepflückt, sie haben sich gefunden, sind angekommen. Gemeinsam sitzen sie nun auf einem Baumstumpf. Um sie herum liegen die anderen Figuren auf dem Boden, sie ruhen. Der Himmel auf Erden? Nach ihrem Gespräch fängt es tatsächlich an zu regnen – wie vorhergesagt. Regen hat sich noch nie so schön angehört. Dann ertönen Lockrufe aus einem hinteren Teil des großen Raumes, der dem Publikum verborgen ist. Die weißen Figuren erheben sich alle und folgen dem Ruf, verschwinden aus dem Blickfeld. Dann erscheint ein junges Mädchen, sie steht da und winkt. Ein unhörbarer Aufruf, der alle einlädt. Man wandert vorbei an dem Baum mit den Schuhfrüchten, in den hinteren, bisher nicht sichtbaren Teil des Raumes. Ein kurzer Gang wird erkennbar, an seinem Ende eine Wand, vor der alle Figuren sitzen. Äste rahmen ein Wort, das nun alle anstarren und das groß auf der Wand prangert: "WALD". Man kann es lesen und verstehen, weil es auf Deutsch dort steht. Wie geht es den anderen? "WALD" – das Wort, das bezeichnet, worauf die Erde, der Baumstumpf und die Äste auch schon ohne Worte verweisen konnten. Indem wir alle auf dieses Wort blicken – ob wir es nun verstehen oder nicht –, geben wir ihm Bedeutung, in welcher Form auch immer, durchbohren die Wand mit unseren Blicken, ohne zu wissen, was dahinter ist: vielleicht das Paradies?

Fotos: Franziska Götzen | © Theater an der Ruhr

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