Stellwerk Magazin

Rezension Ich hielt in meinen Armen das Unmögliche

Vorwort

Jenseits individueller Fluchtgeschichten kreist das diesjährige RUHRORTER-Stück, das am 3. Juni 2017 Premiere feierte, ausgehend von der Novellensammlung „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ (1795) und anderen Goethe-Texten um Geschichten, die an der Schnittstelle von entprivatisierten Träumen, realen wie fiktiven Erinnerungen und literarischer Sprache entstehen. Goethes Novellensammlung zum Impulsgeber nehmend, deren Erzählfiguren die verheerenden Folgen der Französischen Revolution sprachlich verarbeiten wollen, durchwandert „Ich hielt in meinen Armen das Unmögliche“ einen fragilen und doch stets notwendig erscheinenden Sprachraum, der das ‚wirklich Wirkliche’ immer nur umschreiben kann.

[L]eider faßte da / Ein fremder Fluch mich an und trennte mich / Von den Geliebten, riß das schöne Band / Mit ehrner Faust entzwei.1Iphigenie

Das erste Hineinwandern lässt einen kargen, schummrigen Raum sichtbar werden – die Frau am Mikrofon wird von Leuchtröhren im Hintergrund in bühnenhafter Manier angestrahlt. Dicke Nebelschwaden beginnen die Frau zu umhüllen – wird sie nun singen? Ihre Stimme hebt zu einem klagenden Sprechen an, dessen Sinn nicht zu begreifen ist. Begleitet von einem dumpfen, durchdringenden Sound, der an Turbinen erinnert, wird die Geschichte dieser anderen Iphigenie immer eindringlicher. Sie ist eine Fremde, die diesen düsteren Raum mit ihrem suchenden Sprechen durchmisst. Das herannahende Gewitter lässt ihr Ufer zu einem unsicheren Ort werden, den sie bald verlassen wird. Am Ende wandelt sich ihre Klage schließlich doch in ein leichtes Singen, dem plötzlich aus der Ferne ein Operngesang antwortet, dem sie zu folgen beginnt.

Was ich besitze, seh ich wie im Weiten, und was verschwand, wird mir zu Wirklichkeiten.2Faust

Der unheimliche Nebel von zuvor hat sich gelichtet. Ein altes Tonbandgerät baut nun einen Raum der Sprache auf, der „in unbestimmten Tönen“ die dichotome Struktur von Nähe und Ferne zugunsten eines Oszillierens aufweicht, das sich als ein Wechselspiel von Sprachen und Bildern geriert. Dabei wird die ‚Sprachbarriere’, die die vorderen Mikrofone aufrufen, durch die Bilderwelt im Hintergrund immer wieder berührt, ergänzt, aufgenommen, umgeschrieben. Die andere Iphigenie wird in diesem träumerischen Assoziationsspiel zur Dichterin, die Sprache zu Bildern und Bilder zu Sprache werden lässt.

Zu Beginn tritt eine kleine, schwarz gekleidete Frau aus dem hinteren Tableau vivant heraus ans für sie viel zu hohe Mikrofon. Auf Französisch spricht sie: „Oh! laß doch immer hier und dort / Mich ewig Liebe fühlen, / Und möcht' der Schmerz auch also fort / Durch Nerv' und Ader wühlen.“34Sehnsucht Ihre Stimme ist laut und selbstbewusst – doch dann scheint sie den Halt zu verlieren. Immer wieder kippt sie zur Seite. Wie das Pendel eines Metronoms versucht sie, den Takt wieder herzustellen, mit dem Takt ihres Sprechens die Wirklichkeit zu berühren (lat. tactus – berühren).

Wenn’s dann um meine Augen dämmert, und die Welt um mich her und der Himmel ganz in meiner Seele ruhn wie die Gestalt einer Geliebten – dann sehne ich mich oft und denke: ach könntest du das wieder ausdrücken, könntest du dem Papiere das einhauchen, was so voll, so warm in dir lebt, daß es würde der Spiegel deiner Seele! – mein Freund – aber ich gehe darüber zugrunde, ich erliege unter der Gewalt der Herrlichkeit dieser Erscheinungen.5Werther

In einer der nachfolgenden Szene materialisiert sich jenes Moment der Berührung aus der Ferne im Briefverkehr. Nicht nur die Stimme vom Tonband, auch die Stimme im Brief ist immer zugleich präsent und absent, nah und fern. Nah sind die Stimmen durch die Mikrofone, fern das Bild am Horizont, wo eine Frau das Papier aus ihren Händen fallen lässt. Immer wieder werden Perspektiven zugunsten eines umkreisenden Umschreibens aufgebrochen.

8./9./10./16./17./18. Juni ​je 19.30 Uhr Ort: Ruhrorter Straße 110, ​Mülheim an der Ruhr

Plötzlich hört man ein Pochen; der Rhythmus wie ein Herzschlag. Das Bild: Eine weibliche Figur tritt einsam aus der hinteren Masse nach vorne ans Mikro – möchte sie etwas mitteilen? Doch sie zögert und tritt zurück. Sie sucht wieder nach Halt in der Gemeinschaft, teilt sich ihr mit, doch ihr wird kein Gehör geschenkt. Es ist ein Horchen – nach außen und nach innen. Wer kann das unheimliche Pochen abstellen? Ein Erzähler tritt an den Bühnenrand und füllt die sprachliche Leerstelle mit einem Narrativ aus den „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ – und siehe da: aus dem Herz- kann auch ein Peitschenschlag werden. Eine gewaltsame Berührung, ein unheimlicher Takt.

22./23./24. Juni je 19.30 Uhr Ort: Feierabendhaus, Mülheim an der Ruhr (Open Air)

Irgendwann formiert sich die Gruppe um die kleine, schwarz gekleidete Frau, die auf dem Boden liegt und ihre Arme um das Tonbandgerät geschlungen hat – ist sie tot oder will sie verzweifelt eine Stimme hören? Eine Anrufung? Das Mikrofon ist mit einem Tuch verhüllt, das von einer jungen Frau angehoben wir, damit sie ihren Kopf darunter verstecken kann. Die Geste ähnelt der eines Fotografen wie er früher mit seiner Plattenkamera Bilder produziert hat, doch dieser Fotokasten produziert keine Fotos, sondern Sprache –

Bleibe, bleibe bei mir, Holder Fremdling, süße Liebe, Holde süße Liebe, Und verlasse die Seele nicht! Ach, wie anders, wie schön Lebt der Himmel, lebt die Erde, Ach, wie fühl ich, wie fühl ich Dieses Leben zum erstenmal!6Bleibe, bleibe bei mir

Eines der Mikrofone wird nach hinten getragen und macht Platz für ein Bild. Die kleine Frau im schwarzen Kleid tritt der Dichterin plötzlich gegenüber; eine Spiegelszene, die das Fragile und zugleich Wunderschöne dieser Möglichkeitswelten noch einmal offenlegt.

Ich bin so glücklich, mein Bester, so ganz in dem Gefühle von ruhigem Dasein versunken, daß meine Kunst darunter leidet. Ich könnte jetzt nicht zeichnen, nicht einen Strich, und bin nie ein größerer Maler gewesen als in diesen Augenblicken.7Werther

Das Fühlen aus der Ferne lässt die Erzählersituation irgendwann nicht mehr klar erscheinen, die Grenzen verschwimmen. Sind die Figuren und Bilder nun Erinnerungen und Aufzeichnungen der Dichterin oder ist es gar umgekehrt: die Dichterin als Erinnerte?

Ich hielt In meinen Armen das Unmögliche. Es schien sich eine Wolke wieder sanft Um mich zu legen, von der Erde mich Emporzuheben und in jenen Schlummer Mich einzuwiegen, den die gute Göttin Um meine Schläfe legte, da ihr Arm Mich rettend faßte.8Iphigenie

Das Ende berührt wieder den Anfang – ein Kreislauf. Ein Mann möchte dieses Mal das Ufer verlassen. Er trägt einen Koffer und schaut aus einem geöffneten Fenster in eine ungewisse Zukunft. Dann werden die Lautsprecher nach vorne geschoben. Vor dem Hintergrund eines nach Glockenschlägen klingenden Sounds ertönt aus dem Tonbandgerät die Stimme der anderen Iphigenie vom Anfang – nun als Erinnerung. Was passiert, wenn Sprache anfängt zu wandern? Wenn sie sich verschiebt und nicht identitätsstiftend ist? Dann kommen die Bilder. Als aktualisierte Erinnerungen werden sie zu Nebelschwaden, die die Dichterin verschwinden lassen – in die Wirklichkeit.

Fotos: Franziska Götzen

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