Stellwerk Magazin

Rezension Die Stimme Orpheus'

Vorwort

Das STELLWERK-Magazin hat die letzten Jahre immer wieder über die Inszenierungen und Installationen von RUHRORTER berichtet, einem interdisziplinären Kollektiv, das Theater- und Kunstprojekte mit Geflüchteten verwirklicht. Dieses Jahr bieten sie mit dem Stück „Inmitten der Dunkelheit rief ich dich (Orpheus spricht)“, das am 30. Mai 2018 Premiere feierte, nicht nur ein weiteres Mal mit den Mitteln der Kunst ein „Korrektiv gegen die stereotype, stigmatisierende Kategorisierung und Ausgrenzung von Geflüchteten und Asylsuchenden“ an, sondern befragen vor allem auch die Mittel der Sprache als Medium eines Erinnerungsprozesses. Nicht zuletzt steht damit die Frage im Raum, wie Kunst politisch sein kann, ohne allein darin aufzugehen. Es kreist um die Frage, wie Erinnerungen uns nicht bloß in die Vergangenheit entführen und auch gefangen halten können, sondern wie sich diese mit den Mitteln der Kunst in eine Zukunft einzuschreiben vermögen.

Gefördert durch das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes NRW.

Besetzung: Mohammed Dahdal, Alaa Alarsan, Omar Mohamad, Militan Alo, Mohammad Saad Kharouf, Raghad Al-Khatib, Yazan Abo Hassoun

Regie: Adem Köstereli und Julian Rauter

Dramaturgie: Alexander Weinstock

Kostüm: Alisa Hecke

Nach Titeln wie „Zwei Himmel“ (2014), „Als gestern jedes Heute noch das Morgen war und jedes Heute morgen schon zum Gestern wird“ (2016 ), oder „Ich hielt in meinen Armen das Unmögliche“ (2017) bestätigt auch der diesjährige Titel „Inmitten der Dunkelheit rief ich dich“, dass das Ruhrorter-Kollektiv nicht mit einfachen Dichotomien und Oppositionen aufwartet, sondern einen genaueren Blick auf das Dazwischen wirft. Schon fast wörtlich gesehen sind es eben auch jene Zwischenräume, die immer wieder auffallen, spielen doch die Aufführungsorte, verbunden mit ihren ganz eigenen Geschichten und Schicksalen, immer auch eine ganz wesentliche Rolle. Sie werden zu Schnittstellen, an denen sich reale und fiktive Erinnerungen vermischen. Nach Spielstätten wie dem ehemaligen Frauen- und zwischenzeitlichen Abschiebegefängnis in Mülheim an der Ruhr und einem leerstehenden Gebäudekomplex in der Ruhrorterstraße 110, der in den 90er Jahren als Interimsheim für Geflüchtete diente, 2017 dann eine leerstehende, ehemalige Woolworth-Kaufhausfiliale und nun: die Leineweberstraße 41-43. Wieder ein leerstehendes Ladenlokal mitten in der Mülheimer Innenstadt.

Der quadratische Raum bietet den gegenüberliegenden Zuschauerblöcken vorne und hinten den Blick auf sechs Mikrofonständer, die gerahmt von vier großen Lautsprecherboxen, eine Bühnenfläche bilden. Umso mehr liegt der Fokus auf den sieben SchauspielerInnen, die hochkonzentriert die nächsten 60 Minuten diesen Raum bespielen. Die einzigen Requisiten in dieser Welt aus Licht und Schatten sind das Mikrofon und ein Eimer mit Wasser, in dem sich der Mann mit der blauen Hose die Hände rein zu waschen versucht. Welche Schuld hat er auf sich geladen? Ist er Orpheus, hat er sich gegen den Willen der Götter auf dem Weg aus dem Hades umgedreht und dadurch seine geliebte Eurydike ein zweites Mal gänzlich verloren? Hätte er sie doch nicht angeschaut und akzeptiert zu vergessen, dann hätte er sie wiedergewonnen. Nur wer vergessen kann, kann erinnern, das macht nicht zuletzt der Lethe-Fluss zwischen Tages- und Unterwelt deutlich. Mehr assoziativ wird als Hintergrundfolie immer wieder der Orpheus-Mythos anzitiert. Es sind aber auch arabische und persische Gedichte zu hören, sowie Textfragmente, die an Rainer Maria Rilke und Jean Genet angelehnt scheinen. Orphische Motive ziehen sich aber durch das ganze Stück, sei es die Rückwärtsgewandtheit der zuhörenden oder der sprechenden Figuren, die Klage darüber, eine Stimme zu finden oder die Suche nach einem Ausdruck und einer Form der Erinnerung. Zum Vorschein treten an diesem Abend individuelle und kollektive Geschichten, die getragen von Vergessen und Erinnern immer wieder das Motiv des Sprechens, oder vielmehr die Findung eines sprachlichen Ausdrucks aufgreifen.

„Hätte ich eine Sprache“

Der Raum ist zu Beginn bis in die letzte Nische von Dunkelheit erfüllt. Einzig die Schäferszene im Mittelpunkt versprüht einen kleinen Lichtblick inmitten dieser Dunkelheit. Eurydike irrt umher, ohne finden zu können, zu schwach ist das Leuchten, auch das Sternenlicht ermöglicht keine Sicht. Sie ist der Welt des Tages entrissen. Auf das Idyll folgt Meeresrauschen – „Hätte ich eine Sprache“ lautet die Klage – im Licht der Dämmerung wird der Verlust schnell deutlich. Eine der Figuren spricht, bricht ab: Den Mikrofonständer langsam hinter sich herziehend hinterlässt der Mann eine lange Spur des Rauschens im Raum – eine andere Sprache. Ein arabisches Gedicht erklingt. Eine weitere Figur setzt zum Sprechen an, die anderen reihen sich um ihn, wollen seinen Worten folgen, doch er fällt um, bricht ab, mühsam helfen die anderen ihm beim Aufstehen, damit er vielleicht nun von Neuem zum Sprechen ansetzen kann, aber immer wieder fällt er und immer wieder rafft er sich auf. Das Sprechen fällt schwer. Ist Eurydike doch getrennt von Orpheus, so sind seine „Sinne ohne Heimat“. Wie „zwei Gefangene“, die sich nicht hören, nicht sehen, nicht ansprechen können. Flüsternd geht es weiter, und wir werden entführt in eine Welt aus Schatten, Träumen und Erinnerungen, die lediglich Konturen erahnen lassen, statt eine konkrete sprachliche Form.

Weitere TERMINE: 8., 9., 13., 15. und 16. Juni 2018, jeweils 19.30 Uhr. //// Max. 50 Zuschauer | Kartenreservierungen unter: info@ruhrorter.com

Der Mann mit dem Mantel im Wald verkündet „schmutzige Bilder“, er kann sie nicht loswerden. Ein Kampf mit den Bildern der Erinnerung. Diese Bilder könnten der Feder Jean Genets entstammen, der selbst von François Mauriac einmal als Gossen-Orpheus bezeichnet wurde, und der selbst den Erinnerungen schwierigster Zeiten allein in seiner Literatur Ausdruck verliehen hatte.

Wind zieht auf und das Stück endet wie es begonnen hatte. Der Epilog des Schäfers führt uns aus dem Stück. „Wo ist des Windes Haus“, – die anderen bringen ihm die Mikrofone, lassen ihn aber letztlich allein zurück, umringt von Sprachrohren, die ihn umzingeln, jedoch kein verständliches Wort mehr nach Außen dringen lassen. Das Stück zeigt uns keinen Orpheus, oder anders gesprochen, es zeigt uns viele Splitter des orphischen Dilemmas: Was dem Grenzgänger zwischen Ober- und Unterwelt bleibt, ist die Kunst. Denn seine Eurydike erfahren kann er nur noch ästhetisch, finden die flüchtigen Erinnerungen doch vor allem hier einen stetig neuen Ausdruck, ein Dasein. Wir müssen nur genauer zuhören.

Fotos: Franziska Götzen | RUHRORTER

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