Stellwerk Magazin

Poetica 5 Christian Kracht

Vorwort

Zum fünften Mal findet vom 21.-26.01.2019 das Festival für Weltliteratur Poetica in Köln statt. Es wird vom Internationalen Kolleg Morphomata der Universität zu Köln und von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung veranstaltet. Der diesjährige Kurator Aris Fioretos hat dazu acht Autorinnen und Autoren eingeladen, die sich mit dem Thema „Rausch“ befassen. Unter ihnen befindet sich auch Christian Kracht, der bei der Auftaktveranstaltung, in Lesungen und in einer separaten Veranstaltung in einem Gespräch mit dem Kurator zu hören sein wird.

Christian Kracht stellt eine Herausforderung für die Methoden der Literaturwissenschaft dar, hat diese doch jahrzehntelang den Autor für tot erklärt und als eine bloße Sprachregelung adressiert. Kracht aber vermag es, seine Texte so anzulegen, dass sie in der Öffentlichkeit des Feuilletons regelmäßig die Engführung der Erzähler und Figuren seiner Romane mit seiner eigenen Person provozieren. Wie Jens-Christian Rabe in seiner Rezension von Die Toten in der Süddeutschen Zeitung annimmt: Man „muss hier erst mal mit dem Mann beginnen, um zum Werk zu kommen“.1Jens-Christian Rabe: Neuere Roman Die Toten. Christian Kracht zelebriert die hohe Kunst der Uneindeutigkeit. In: https://www.sueddeutsche.de/kultur/neuer-roman-die-toten-christian-kracht-zelebriert-die-hohe-kunst-der-uneindeutigkeit-1.3151838, (14.01.2019). Dabei lässt sich Krachts Werk, auch im Licht seiner Rezeption in der Literaturkritik, dadurch charakterisieren, dass es weite Deutungsspektren eröffnet. Sein erster Roman Faserland von 1995 hat sich als so multipel anschlussfähig erwiesen, dass er sowohl zum Gründungsphänomen des deutschen Pop-Romans als auch zur kanonischen Lektüre an Schulen erhoben werden konnte.

Krachts Umgang mit seiner eigenen Persona in der Öffentlichkeit ist ebenso umstritten wie vielschichtig: Sie lässt sich zum Beispiel als Provokation verstehen, als poptypisches Verfahren der Autorschaft am eigenen öffentlichen Image, als Zeichen einer verflachten Kultur der Oberflächlichkeit oder als Metaverfahren, in dem die Mechanismen des Literaturbetriebs offengelegt werden. Ein Beispiel: Sein zuletzt erschienener Roman Die Toten bietet im Umschlagbild auf der Rückseite ein Bild des Autors, auf dem die Frisur an die Beschreibung des Protagonisten erinnert. Diese Konstellation erscheint im Licht der Debatte über den vorangegangenen Roman Imperium als Anschlussoperation, die mit dem Romantext gleichzeitig das Autorbild als visuelles Zeichen präsentiert. So werden simultan die öffentliche Rolle des Autors, die mit ihm verbundenen Zuschreibungen und sein Text präsentiert. Allein dieses Nebeneinander von eigentlichem Text (erzählte Geschichte) und visuellem Paratext (Autorporträt) eröffnet bereits zwei unterschiedliche Interpretationsansätze.

Wie entkommt man bloßem Biographismus, ohne die offensichtliche Funktion der Autorrolle für die Texte zu ignorieren? Um über den Dualismus von autororientierter und werkorientierter Lektüre hinauszukommen, ist es vielleicht hilfreich, dieses Zusammenspiel als besonders offen für multiple Lektüremodi zu interpretieren. Krachts Zögern, seine literarischen Texte direkt zu kommentieren („Ihm ein Wort zur Deutung seiner Bücher zu entlocken ist aussichtslos“2Ijoma Mangold: Christian Kracht: „Ich bin ein schlimmer Nostalgiker“. In: https://www.zeit.de/2016/37/die-toten-roman-christian-kracht/komplettansicht (14.01.2019). , wie Ijoma Mangold in der Zeit feststellt), wäre dann eine Strategie, die diese Offenheit gewährleistet.

Hollywood – Hölderlin – Hyperion?

Krachts Texte sind durchzogen von Zitaten, häufig werden diese direkt in die Texte montiert. In einer Kritik der Seite culturmag.de wird der Satz „Es gibt ein Vergessen allen Daseins, ein Verstummen unseres Wesens, wo uns ist, als hätten wir alles gefunden“3Christian Kracht: Die Toten. Köln 2016, S. 211. aus Die Toten als eine der „existenziellen und fast schon met[a]physisch-raunenden Sentenzen“4Karsten Herrmann: Konzentriertes Meisterwerk. In: http://culturmag.de/rubriken/buecher/roman-christian-kracht-die-toten/96360 (14.01.2019). bewertet, mit denen der Autor glänze. Der Satz stammt allerdings bis auf eine unterschiedliche Genitivform wortwörtlich aus Friedrich Hölderlins Roman Hyperion.5Friedrich Hölderlin: Hyperion. In: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe Bd. 2, Frankfurt 1994, S. 9-276, hier: S. 51. In den Schluss von Die Toten montiert, wird er zur Gedankenrede der Figur Ida, die eben den Buchstaben H des berühmten Hollywood-Gerüstes in Los Angeles bestiegen hat. Hollywood – Hölderlin – Hyperion: Die Passage ist ein gutes Beispiel für die Mehrfachcodierung von Zeichen als Verfahrenstechnik von Krachts Texten. Der culturmag.de-Autor hat hier metaphysische Tiefe gefunden, wohingegen Moritz Baßler in der taz feststellen kann: „Hier bleibt Kracht zum Glück seinem Pop-Erbe verbunden: geraunt wird nicht“.6Moritz Baßler: „Die Toten“ von Christian Kracht. Zwischen Setzung und Zersetzung. In: http://www.taz.de/!5335976/ (14.01.2019). Der Poststrukturalist könnte das H als Zeichen gleitender Signifikanten lesen, Anhänger der Einebnung von Pop- und Hochkultur finden die Verschmelzung von Hölderlin und Hollywood.

Insofern lassen sich die zwölf leeren weißen Seiten, die in der ersten Auflage dem Schluss von Die Toten folgen (oder ihn bilden?), als medial-dingliches Korrelat einer virtuellen Einschreibefläche lesen. Die Interpretationsoffenheit des Textes ist dem materiellen Gegenstand des Buches somit konstitutiv eingearbeitet. Und so gehört zu Christian Krachts Virtuosität auch die Fähigkeit, durch die Polysemantik seiner Texte grundsätzliche Positionierungen seiner reflektierten Kritiker geradezu zu erzwingen: Sage mir, wie Du den neuesten Kracht-Roman liest – und ich sage Dir, wer Du bist.

Foto: © Frauke Finsterwalder