Stellwerk Magazin

Miniaturen des Alltags

Vorwort

„Miniaturen des Alltags” ist der Titel einer STELLWERK-Serie, in der unsere AutorInnen regelmäßig einen poetischen Blick auf Alltägliches und Abseitiges werfen.

8 Minuten Umsteigezeit

Duisburg Hauptbahnhof kurz vor Weihnachten. Nieselregen und Pommesfettgeruch. Eine junge, grimmig blickende Frau, die sich in dicken, verschnörkelten Buchstaben das Wort „Child“ über Hals und Kinn hat tätowieren lassen, raucht am Ausgang. Leider kann ich nicht erkennen, was noch alles auf ihrer Haut steht, obwohl es mich brennend interessiert.

Ich schlendere durch den Bahnhof, habe Dazwischenzeit zu verschwenden. Die Bahnhofstoilette wird beworben mit „die saubere Adresse für ‚Groß‘ und ‚Klein‘“, aber niemand außer mir scheint das beachtenswert zu finden. Der Blumenladen gegenüber heißt „Men“ – eine progressive Initiative für mehr Geschlechtergerechtigkeit bei floralen Geschenken oder reine Ironie? Ein freundlicher Mann mit Kinderwagen fragt die junge Frau neben mir, ob wir uns in Düsseldorf oder Duisburg befinden. Sie reagiert nicht, obwohl er direkt vor ihr steht und sie immer weiter anspricht. Weil er schwarz ist? Sie ignoriert ihn weiter. Ich antworte ihm, er lacht und ist in der falschen Stadt gelandet. „This year, to save me from tears, I'll give it to someone special“, schallt blechern aus den Lautsprechern. Am Fuß der Rolltreppe mischen sich verrentete Reisegruppen – Greisengruppen – unter die Tauben, die auf dem schmutzigen Boden herumpicken; intensiver Pizzageruch hängt in der Luft. Menschen rennen, aber trotzdem scheint die Zeit heute etwas langsamer zu fließen. Ich steige in den Zug nach Amsterdam, in dem ein Kind leise vor sich hinsingt: „Laterne, Laterne, Sonne, Mond und Sterne“.