Stellwerk Magazin

POETICA 6 Jan Wagner

Vorwort

Vom 20.-25. Januar 2020 findet zum sechsten Mal die Poetica in Köln statt. Das Festival für Weltliteratur wird vom internationalen Kolleg Morphomata der Universität zu Köln und von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung veranstaltet. Der diesjährige Kurator Jan Wagner hat dazu neun internationale AutorInnen eingeladen, die sich mit dem Thema „Widerstand. The Art of Resistance“ befassen. Er selbst wird als Moderator durch die Poetica-Woche führen.

© Alberto Novelli - Villa Massimo

„Es/Kommt, was eher da, uns sonderbar nahe“

„Man muss nicht wissen, was ein Sonett ist. Gedichte sollten sofort sprechen zur Leserin, zum Leser. Man muss nicht studiert haben und die ganzen Formen kennen. Gedichte sind etwas Essentielles und Poesie ist, glaube ich, ein Grundbedürfnis, das jeder kennt.“1https://www.deutschlandfunkkultur.de/dichter-jan-wagner-poesie-ist-ein-grundbeduerfnis.970.de.html?dram:article_id=436816. Jan Wagner betont gerne die Unmittelbarkeit der Lyrik. Gedichte kommen für ihn zunächst aus einem allen zugänglichen Bedürfnis, das jeder als Kind erlebt: „Diese rein kindliche Freude, die jeder kennt, wie es ist, mit Wörtern zu spielen und das macht Gedichte auch aus, dass man genau da weiter macht, wo Kinder vielleicht aufhören.“2Ebd. Diesen Bekenntnissen entspricht Wagners begeistertes Engagement für die Poesie. Mit seiner eigenen Lyrik schafft er es auf Bestsellerlisten, die „Regentonnenvariationen“ haben sogar den Preis der Leipziger Buchmesse erhalten – als erster Gedichtband überhaupt. Er veröffentlicht manchmal „beiläufige Prosa“ 3Vgl. Wagner, Jan: Der verschlossene Raum. Beiläufige Prosa. Berlin 2017., wie er sie nennt, aber Zentrum seines Werks ist und bleibt die Lyrik. Dabei ist Wagner selbst auch als Übersetzer und Herausgeber tätig. Zusammen mit Federico Italiano hat er den Band „Grand Tour. Reisen durch die junge Lyrik Europas“ herausgegeben, in der Gedichte von 427 zeitgenössischen europäischen LyrikerInnen versammelt sind. Als Botschafter der grenzüberschreitenden Kraft der Poesie ist Jan Wagner so idealer Kurator des Literaturfestivals Poetica 6. Die in der Einleitung zu „Grand Tour“ formulierte utopische Programmatik ließe sich auch als Beschreibung der Zielsetzung der Poetica verstehen, wenn man den europäischen Fokus beiseitenimmt: „Die Dichterinnen und Dichter sämtlicher Ländern […] überqueren mit beglückender Selbstverständlichkeit nationale wie sprachliche Grenzen, lassen sich beeinflussen von den Traditionen der näheren und der entfernteren Nachbarn, schreiben einander, begegnen einander, tauschen sich aus und diskutieren – und natürlich übersetzen sie auch die Gedichte der Freunde und Kolleginnen in die eigene Muttersprache, machen sie somit für ein heimisches Publikum erfahrbar, bereichern auf diese Weise auch die eigene Sprache und Literatur.“4Italiano, Federico / Wagner, Jan (Hg.): Grand Tour. Reisen durch die junge Lyrik Europas. München 2019, S. 7. Bei der Poetica-Veranstaltung „Europa im Gedicht – Grand Tour“ werden am 24. Januar ab 20 Uhr im alten Pfandhaus auch AutorInnen der „Grand Tour“ in Lesungen und Gesprächen präsent sein: Tadeusz Dąbrowski, Erik Lindner, Luljeta Lleshanaku, Helen Mort und Serhij Zhadan.

Um etwas mehr über Wagners eigenes lyrisches Schaffen zu erfahren, lohnt ein Blick in den Band „Der Eulenhasser in den Hallenhäusern. Drei Verborgene“: Das 2012 erschienene Buch versammelt Gedichte dreier Autoren: Anton Brant, Theodor Vischhaupt und Philip Miller. Sie alle hat Jan Wagner erfunden. Vorangestellt ist jeweils eine Biografie und ein Schriftenverzeichnis mit ebenfalls erfundenen Primär- und Sekundärquellen zu diesen Autoren. Die Gedichte sind zudem ausführlich kommentiert. Das Gedicht „So nah“ zum Beispiel stammt von Theodor Vischhaupt, der uns als verschlossener Einzelgänger und Mitarbeiter im Fundbüro vorgestellt wird. Sein eigentlicher Lebensinhalt besteht jedoch in dem Verfassen von – ausschließlich – Anagrammgedichten. Eines dieser Gedichte, „So nah“, ist gestaltet nach einer Gedichtzeile von Anna Achmatowa: „So nah kommt es heran, das Wunderbare“5Wagner, Jan: Die Eulenhasser in den Hallenhäusern. Drei Verborgene. Gedichte. 2. Aufl., Berlin 2017, S. 78., dieser Vers bildet den Ausgangspunkt für die sechs dreizeiligen Strophen des Gedichts. Im Kommentar wird betont, dass sich Vischhaupt in seinem Briefwechsel mit seiner einzigen Bezugsperson, Thaddäus Winkelmann, mehrfach auf seine „Anna-Gramme“6Ebd., S. 79. bezieht. Die Freude am virtuosen Spiel ist hier deutlich zu erkennen, ein Form- und Traditionsbewusstsein, das in Wagners Texten immer sehr stark ausgeprägt ist. Ein fiktiver Autor bezieht sich in einem Briefwechsel mit seinem fiktiven Freund auf eine wirkliche Autorin. Dazu gibt es von dem wiederum fiktiven Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Lutker Voigt einen Aufsatz in einer fiktiven Zeitschrift. Diese verspielte Konstruktion erzeugt eine Rahmung des Gedichtes, die gleichzeitig lektüresteuernd wirkt. Im Kommentar der Zeilen „[…] das wan-/Kende Bahamas-Rohr, Wermut sodann. Es/Kommt, was eher da, uns sonderbar nahe“7Ebd., S. 77. wird darauf verwiesen, dass Vischhaupt natürlich nie auf den Bahamas gewesen sei. Er „schwärmt aber im Tagebuch von ‚diesem Wohlklang, diesem warmen Triple-A, dieser gemächlichen Brandung aus A’s, schwappschwappschwapp, in der man es sich gut gehen lassen kann‘“.8Ebd., S. 79. Damit eröffnet die fiktive Rahmung auch tatsächliche Lektüremöglichkeiten. Hier etwa, nicht zu fragen, was denn die Bahamas mit dem fiktiven – oder realen – Autor zu tun hätten, sondern auf den Wohllaut dieses Wortes zu achten. Wagners virtuos verspielter Band „Eulenhasser in den Hallenhäusern“ präsentiert Gedichte somit als immer schon eingebettet in biografische Erzählungen, Deutungen, Rahmungen, Buchgeschichten. Hier haben wir einen Gedichtband vor uns, der nicht so tut, als bestünde er in einem komplett abgeschlossenen Raum bloß für sich. Die Kommentare stellen die Gedichte nicht still, wie man zunächst skeptisch vermuten könnte. Vielmehr laden sie gerade ein zum Anschließen, Widersprechen und Umdeuten. Sie sind damit ein Kommentar zur Lebendigkeit der Lyrik in ihren verschiedenen Rezeptionsformen: Als Sprachkunstwerk für sich stehend, mit den Deutungsversuchen der LiteraturwissenschaftlerInnen versehen, auf die Biografie der AutorInnen bezogen, oder als Quelle für Wohlklang. Gerade in Theodor Vischhaupts Anagrammgedichten tritt zudem das Spielerische deutlich hervor, das Wagner in seinen poetologischen Aussagen gerne betont. „Eulenhasser in den Hallenhäusern“ ist ein weiter Imaginationsraum, der zur Teilnahme am lyrischen Sprachspiel einlädt. „Es/Kommt, was eher da, uns sonderbar nahe.“9Ebd., so endet „So nah“ und die Anlage des Bandes erzeugt tatsächlich eine sonderbare Nähe zu Lyrikern, die nie existiert haben, die Jan Wagner ins literarische Leben gerufen hat. Als Kurator und Moderator der Poetica 6 wird Wagner dem Publikum wiederum ganz real existierende AutorInnen näherbringen. „Widerstand. The Art of Resistance“ ist das diesjährige Thema. Neben ihrer Beständigkeit in der Zeit und ihres Überdauerns des vergänglichen Zeitgeists sei die Poesie immer diejenige gewesen, „die schließlich immer auch Gegenentwurf zum Status quo sein konnte und wollte, ein Widerspruch, ein Widerspinst“10https://www.poetica.uni-koeln.de/poetica-6/., so programmatisch der Einführungstext zur Auftaktveranstaltung. Man darf sehr gespannt sein auf die Formen des Widerstands der Lyrik, die er zusammen mit seinen Gästen Tadeusz Dąbrowski, Erik Lindner, Luljeta Llsehanaku, Agi Mishol, Helen Mort, Herta Müller, Sergio Raimondi, Xi Chuan und Serhij Zhadan im Lauf des Literaturfestivals erschließen wird.

Bei der kostenfreien Auftaktveranstaltung in Aula I und II des Hauptgebäudes der Universität zu Köln am 20. Januar ab 19 Uhr werden sich alle AutorInnen mit Kurzlesungen und im Gespräch mit Jan Wagner präsentieren.

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