Stellwerk Magazin

Das dreifache Bananen-Problem

Vorwort

„1000 Serpentinen Angst“ von Olivia Wenzel erzählt von einer jungen, Schwarzen Frau, die ihren Platz in der Welt noch nicht gefunden hat. Aufgewachsen und großgezogen in der ehemaligen DDR, sucht sie in Berlin nach Zugehörigkeit, nach Liebe und Lebensfreude, während sie immer wieder mit Einsamkeit, Verlust und teils irrationalen Ängsten konfrontiert wird. Olivia Wenzels Debütroman ist im März beim S. Fischer Verlag erschienen. Mitte August wurde bekanntgegeben, dass „1000 Serpentinen Angst“ für den Deutschen Buchpreis 2020 nominiert ist.

Olivia Wenzel © Juliane Werner Olivia Wenzel © Juliane Werner

In den 1940er-Jahren wurde in den USA ein Experiment durchgeführt: Weißen1Wir orientieren uns im STELLWERK an den Formulierungshilfen der Neuen deutschen MedienmacherInnen für eine differenzierte und vielfältige Berichterstattung. Oft herrscht das Missverständnis, es ginge bei dem Begriff „weiß“ um die Hautfarbe von Menschen. Tatsächlich ist damit eine gesellschaftspolitische Norm und Machtposition gemeint in einer mehrheitlich weißen Gesellschaft. Dabei müssen sich weiße Menschen nicht selbst als weiß oder privilegiert fühlen. und Schwarzen2Wir orientieren uns im STELLWERK an den Formulierungshilfen der Neuen deutschen MedienmacherInnen für eine differenzierte und vielfältige Berichterstattung. „Schwarz“ und „weiß“ sind politische Begriffe und beziehen sich nicht auf die Hautfarbe. Die Initiative „der braune mob e.V.“ schreibt: „Es geht nicht um ‚biologische‘ Eigenschaften, sondern gesellschaftspolitische Zugehörigkeiten.“ Um das deutlich zu machen, plädieren sie und andere dafür „Schwarz“ groß zu schreiben. Kindern im Alter von drei bis sieben Jahren wurden jeweils zwei Puppen vorgelegt, die eine weiß, die andere Schwarz. Ansonsten sahen sie vollkommen gleich aus. Den Kindern wurden mehrere Fragen gestellt: Welche Puppe ist die hässliche Puppe? Welche Puppe ist die schöne Puppe? Welche ist die gute, welche die böse Puppe usw. Ein Großteil aller Kinder wählte die weißen Puppen als die netten, schönen, klugen und die guten aus, die Schwarzen als die gemeinen, dummen, hässlichen und bösen Puppen – ganz unabhängig davon, ob sie selbst Schwarz oder weiß waren. Das Experiment, welches Olivia Wenzel in ihrem Debütroman „1000 Serpentinen Angst“ beschreibt, macht deutlich, wie tief rassistische Zuschreibungen in den Menschen verwurzelt sind und waren.

Auch im 21. Jahrhundert haben Schwarze Menschen noch mit Rassismus zu kämpfen, der sich beispielsweise in normativ weißen Schönheitsidealen äußert: „Was als schön galt und was nicht, wurde mir von kleinauf beigebracht“3Wenzel, Olivia: 1000 Serpentinen Angst. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag 2020, S. 136., beschreibt die Protagonistin von Wenzels Roman ihre Kindheit. Sie ist, genau wie die Autorin, Mitte 30, Afrodeutsche und in Ostdeutschland aufgewachsen. Der Roman ist in der Gegenwart angesiedelt, die Hauptfigur der Erzählung lebt inzwischen in Berlin. Ihre Mutter: eine vom System gebeutelte, ehemalige Punkerin, mit der sie ein schlechtes Verhältnis hat. Ihre Großmutter: eine ehemals treue SEDlerin. Ihr Zwillingsbruder: tot, Selbstmord, vor einigen Jahren. Die Protagonistin des Romans, deren Name im gesamten Buch kein einziges Mal erwähnt wird, quält vor allem ein Thema: Sie weiß nicht so recht, wo ihr Platz in der Welt ist. Zunächst einmal lebt sie in Deutschland ein privilegiertes Leben: Sie unternimmt regelmäßig lange Reisen in die USA, nach Vietnam oder Angola, die sie sich von ihrem vermögenden, angolanischen Vater finanzieren lässt, den sie jedoch kaum kennt. Als Schwarze, queere, im Osten aufgewachsene Frau gehört sie wiederum gleich mehreren marginalisierten Gruppen der Gesellschaft an. Ein ebenso komisches wie bitteres Bild hierfür findet sie in dem „dreifache[n] Problem mit der Banane“4Ebd., S. 49.: Wenn sie die Straße entlangläuft und dabei eine Banane isst, dann hat sie den Eindruck, bei ihren Mitmenschen gleich drei problematische Assoziationen hervorzurufen: als Schwarze die des Affen, als Frau die des Oralsexes und als „Ossi“ die der ostdeutschen Konsumunterlegenheit.

Ebenso wie sich die Identität der jungen Frau nicht so recht zu einem kohärenten Bild zusammenfügen lässt, fällt auch das Erzählen auseinander: „1000 Serpentinen Angst“ liest sich nicht als chronologische Geschichte, das Buch besteht vielmehr aus aneinandergereihten, unzusammenhängenden Erinnerungen und Gedankenfetzen. Die ungewöhnlichen Form vermittelt beim Lesen das Gefühl der Orientierungslosigkeit, mit dem auch die Protagonistin kämpft. Dahinter steht aber von Seiten der Autorin offenbar kein strenges Konzept, sondern eine gewisse Unbekümmertheit und Experimentierfreude. Im Interview mit der taz verrät Wenzel: „Inspiriert hat mich mal eine Schlagzeile von Buzzfeed oder mal etwas, das ich im Vorbeigehen von anderen Leuten gehört habe.“5https://taz.de/Autorin-Olivia-Wenzel-ueber-Identitaet/!5666451/ Einerseits stören die Zeitsprünge, unverhofften Themenwechsel und plötzlichen Dialoge den Lesefluss erheblich. Andererseits ermöglicht der Entfall einer entsprechenden Kontextualisierung eine freiere Interpretation der einzelnen Textabschnitte. Zugleich hat man es aber nicht nur mit einer uneindeutigen Erzählsituation zu tun, sondern auch mit Inhalten, die sich nicht so recht festnageln lassen. Wenzels Sprachbilder sind oft mehrdeutig und lassen verschiedene Assoziationsmöglichkeiten zu, so dass sich beim Lesen ein ganzes Themenspektrum entfaltet: von Rassismus über Mutter-Kind-Beziehungen, Freundschaft, Familienkonstrukte und Rollenbilder bis hin zu psychischen Krankheiten und Sexualität. Leichte Kost geht anders.

Trotz der zerstückelten Form finden sich im Roman auch einige „Ankerpunkte“, die beim Lesen Orientierung bieten. Immer wieder kehrt die Erzählung etwa zu einer bestimmten Metapher zurück: Die Protagonistin des Buches beschreibt ihr Herz als einen Snack-Automaten, der an irgendeinem unbekannten Bahnsteig steht – ein Bild, das ein beklemmendes Gefühl von Verlassenheit, Tristesse und Anonymität aufruft. Den Inhalt des Blechkastens beschreibt sie wiederum als durchaus verführerisch: „Diese leckeren, kleinen Snacks – von der morbiden Schweinerindswurst im Teigmantel bis zum Kokosschokoriegel – sie stehen hier alle nur für mich und ich hab die Wahl. Ich kann sie in jeder beliebigen Konstellation anschauen, kaufen, einspeicheln und runterschlingen.“6Wenzel, Olivia: 1000 Serpentinen Angst. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag 2020, S. 9. Doch das Überangebot lässt sie ebenso wenig befriedigt zurück wie die zahlreichen, teils widersprüchlichen Identitätsentwürfe – Schwarz, queer, ostdeutsch – denen sie sich zuordnen könnte. Diese überfrachten sie derartig, dass es ihr schwerfällt, sich selbst in der Welt zu verorten. Um ihrem wirren Gefühlsbrei zu entfliehen, fantasiert die Protagonistin sich den Automaten an anderer Stelle als Zufluchtsort: In ihren Gedanken dringt sie darin ein und fristet ein zurückgezogenes Dasein. Wenzel spinnt dieses Bild immer weiter, bis es irgendwann nur noch grotesk und völlig entfremdet wirkt – und der Snack-Automat schließlich von einer überdimensionalen Bierdose zerdrückt wird.

Inwiefern das Leben der jungen Frau im Roman mit dem seiner Autorin übereinstimmt, bleibt offen. Einige offensichtliche Parallelen lassen sich schnell festmachen: Beide sind Afrodeutsche, beide in Ostdeutschland aufgewachsen, beide ungefähr Mitte 30. Während Wenzel aber ihren Lebensunterhalt mit dem Schreiben fürs Theater und mit dem Abhalten von Workshops verdient, arbeitet die Protagonistin ihres Romans als Vertretungslehrerin. Auch andere Eigenschaften der Romanfigur teilt Olivia Wenzel offenbar nicht. Es handelt sich bei ihrem Debüt also keineswegs um eine Autobiografie, sondern vielmehr um eine Kombination aus eigenen Erfahrungen der Autorin mit dazu Gedachtem, Erfundenem. Im taz-Interview beschreibt sie ihre Romanheldin als „eine düsterere Version“7https://taz.de/Autorin-Olivia-Wenzel-ueber-Identitaet/!5666451/ ihrer selbst. Das löst „1000 Serpentinen Angst“ auch ein und wirkt über weite Strecken beinahe schon dystopisch. Trotzdem kein Grund zum Verzweifeln. Gleich zu Beginn des Buchs fragt eine Stimme die junge Frau, ob sie sich „auf alles, was kommt“ freue. Ihre Antwort: „Merkwürdigerweise ja.“8Wenzel, Olivia: 1000 Serpentinen Angst. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag 2020, S. 34.

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