Stellwerk Magazin

Sommerkonzerte von Rausgegangen.de Kopfhörer an – Welt aus

Vorwort

Die Online-Plattform „Rausgegangen“ bietet normalerweise Eventtipps für KölnerInnen an. Ob Konzert, Ausstellung oder Eröffnung eines Pop-Up Stores – täglich findet sich eine große Tipp-Vielfalt auf der Website. Als vor einem halben Jahr das öffentliche Leben zur Eindämmung des Coronavirus plötzlich heruntergefahren werden musste, steckte man nicht den Kopf in den Sand, sondern wurde kreativ: Kurzerhand gründete das Team von „Rausgegangen“ die Schwester-Website „Dringeblieben“, wo man mit Streaming-Events versuchte, die Kultur in die Kölner Wohnzimmer zu bringen. Seit Veranstaltungen mit Publikumspräsenz wieder möglich sind, nutzten die MacherInnen von „Rausgegangen“ auch diese Chance und starteten selbst eine Konzertreihe: Die Sommerkonzerte 2020 sind „corona-konforme“, heißt hygienisch sichere und komplett bestuhlte, Events unter freiem Himmel. Vom 17. August bis zum 5. September traten im Kölner Jugendpark deutsche KünstlerInnen auf kleiner Bühne auf. Doch kann man so ein Event bei all den Sicherheitsmaßnahmen überhaupt richtig genießen? Wir waren bei einem der Sommerkonzerte dabei.

Über 300 Menschen vor einer Bühne, die gut gelaunt ein Live-Konzert genießen. Das kann nur eine Erinnerung an Zeiten vor Corona sein? Nicht ganz. Denn mit den Stichworten „Maskenpflicht“ und „Sitzkonzert“ verlagert sich diese Szenerie schnell in die heutige Realität inmitten einer Pandemie. Es ist ein vergleichsweise kühler Abend, fast schon herbstlich. Das Wort „Sommer“ müsste man heute aus dem Namen der Konzertreihe streichen. Ausgestattet mit Pullover, Schal und Jacke begebe ich mich zum Eingang des Geländes. Seit Beginn der Corona-Krise war ich nicht mehr auf einem Konzert. Deshalb bin ich gleich doppelt gespannt auf die Veranstaltung mit der Band KLAN. Das Duo besteht aus den Leipziger Brüdern Stefan und Michael Heinrich. Die beiden machen deutsche Pop-Songs mit modernem und kraftvollem Sound und sind nun mitsamt Vorband Moglii in Köln zu Gast. Die Konzertkarten habe ich vorab online gekauft. So konnte ich auch direkt einen Sitzplatz, genauer gesagt eine „Parzelle“ mit zwei Stühlen, reservieren. Ein freundlicher junger Mitarbeiter empfängt mich beim Einlass im Kölner Jugendpark – eine grüne Oase direkt am Rhein. Seit Juni befindet sich hier die Summer Stage Cologne, mit Platz für 350 Personen. Diese „corona-konforme Open-Air-Bühne“ bietet Raum für diverse Kulturveranstaltungen und ein umfangreiches Hygienekonzept sorgt für ausreichend Sicherheit. So herrscht zum Beispiel bei allen Events eine Sitzplatz- und Maskenpflicht. Zudem finden alle musikalischen Gigs auf der Summer Stage ausschließlich als Silent-Concerts über Kopfhörer statt – um die Anwohner nicht zu stören, wie es auf der Website heißt.
Nach der obligatorischen Runde Händedesinfizieren bekomme ich die Over-Ear-Kopfhörer ausgehändigt. Meine Vorfreude steigt. Allein der Vorgang der Ticketkontrolle lässt mich in Erinnerungen an den letzten Festivalsommer schwelgen und die Corona-Schutzmaßnahmen gedanklich in den Hintergrund rücken. Beim Betreten des Geländes dann ein ungewohnter Anblick: Vor der Bühne stehen auf einer asphaltierten Fläche in Reih und Glied zahlreiche Stühle. Der Aufbau erinnert eher an ein Freiluft-Klassenzimmer: Die „Schulstuhl-Klassiker“ – stapelbare Holzstühle mit schwarzem Stahlrohr-Gestell – in fein säuberlichem Abstand zueinander. Schulbank meets Rock’n’Roll. Wie soll hier echtes Konzert-Feeling aufkommen?

Ich habe mir online die Parzelle E-6 ausgesucht und nehme jetzt darin Platz. Das ca. 1,5 x 1,5 Meter große Quadrat wird für die nächsten Stunden mein wortwörtlicher Safe-Space sein. Nur in dieser kleinen, mit Sprühkreide auf dem Asphalt gekennzeichneten Fläche, darf man dank des Sicherheitsabstandes seinen Mund-Nasenschutz abnehmen. Zum Hygienekonzept gehört noch ein besonderer Service. Zwei MitarbeiterInnen drehen zwischen den Stuhlreihen ihre Runden mit einem kleinen Bollerwagen. Dieser dient als mobile Bar und ich kann mir ein Getränk bequem von meinem Platz aus kaufen. Doch im Laufe des Abends zeigt sich schnell die Schwachstelle dieses sonst sehr praktischen Konzepts. Nämlich dann, wenn der Verkauf eines kühlen Getränks plötzlich genau im eigenen Blickfeld stattfindet und die Bühne hinter den Köpfen von Käufer und Verkäufer verschwindet. Aber alle, die schon mal auf einem Stehkonzert waren, kennen das leidige Auf-Zehenspitzen-Stehen, um überhaupt etwas von der Bühne sehen zu können. Und auch das Gedrängel durch die Menschenmassen wird mir hier erspart. Da nehme ich die wenigen Minuten Sichteinschränkung doch gerne in Kauf. Nach und nach füllen sich die anderen Stühle. Im Publikum sitzen viele junge Leute, aber auch ein paar Familien mit Kleinkindern. Die Stimmung ist von Anfang an ausgelassen. Jetzt ist die Bühne frei für Künstler Moglii. Der junge Musiker stimmt das Publikum als Ein-Mann-Vorband mit seinem einzigartigen Synthesizer-Sound ein: Sanfte Beats gepaart mit harmonischen Vocals und dazu die ungewöhnlichen Tanzbewegungen von Simon Ebener-Holscher alias Moglii. Doch noch kommt mir das alles merkwürdig vor. Ein sitzendes Publikum und das Konzert nur über Kopfhörer – hätten wir nicht genauso gut alle zuhause im warmen und trockenen Wohnzimmer bleiben können und das Event einfach wie seit Beginn der Pandemie online streamen?

© Daniel Kallhoff © Daniel Kallhoff

KLAN betritt die Bühne, diesmal mit Verstärkung in Form eines Bassisten und des Schlagzeugers. Die vier Männer, alle schätzungsweise Anfang 30, wirken gelassen. Vor allem Stefan und Michael Heinrich scheinen selbstbewusst und gut gelaunt zu sein. Für sie ist es auch das erste Kopfhörerkonzert, erwähnt einer der Brüder. Zu viert stimmen sie den ersten Song „Baby, Baby“ an. Es folgt eine musikalische Mischung aus lauten und dynamischen Songs und einigen leisen, ruhigen Liedern. Für mich klingt es ein bisschen wie ein Mix aus Clueso und Joris und doch ganz eigen. Urban, frisch, mitten aus dem Leben geschriebene Texte – deutscher Pop at it’s best. Dass die Band heute auf der Bühne steht ist nicht selbstverständlich. Denn das Booking für die Sommerkonzerte gestaltete sich den Umständen entsprechend schwierig, wie Tim Jaspert, Head of „Rausgegangen“, mir vorab berichtet. Internationale KünstlerInnen fielen aufgrund der Pandemie grundsätzlich weg. Und auch nicht jede/r deutsche MusikerIn wollte bei einem Sitzkonzert spielen. Doch die MacherInnen von „Rausgegangen“ legten trotz dieser Herausforderungen großen Wert auf ein vielfältiges Line-Up: Die Konzertreihe startete mit der Stuttgarter Indie-Band Rikas, die mit Songs wie „Tortellini Tuesday“ kalifornische Feel-Good-Stimmung verbreiten. Auch vertreten war das Newcomer-Duo ÄTNA und der deutsche Künstler Goldroger, der lässigen Deutschrap à la Jan Delay auf die Bühne bringt. Von Indie/Alternative über Dance/Electronic bis hin zu Rap wurde also für fast jeden Geschmack etwas geboten.

Anfangs wippen nur zaghaft vereinzelte Füße mit, dann steigen immer mehr Köpfe in den Takt ein. Schließlich können zwei junge Frauen nicht mehr stillsitzen. Sie stehen auf und tanzen – innerhalb ihrer Parzelle ist schließlich alles erlaubt. Spätestens jetzt zeigt sich auch, warum dieses Konzert live stattfindet. Die Menschen sind ausgelassen und die Freude, wieder an einem Live-Event teilnehmen zu können, ist spürbar groß. Auch wenn das Konzertfeeling durch das Hygienekonzept zugegebenermaßen gehemmt wird, so schwappen doch immer wieder Wellen der Begeisterung von Parzelle zu Parzelle. Dieses Gemeinschaftsgefühl kann nur ein Live-Event transportieren, da macht es auch fast keinen Unterschied mehr, ob normales oder Silent-Concert. Und auch die Musiker sind sich in diesem Punkt einig: Endlich wieder live vor Publikum zu spielen ist für sie „richtig weird“ und sehr besonders. KLAN spielt schließlich den letzten Song des Abends „Wann soll man gehen?“. Mittlerweile ist es dunkel auf dem Gelände. In die Kopfhörer integrierte Leuchten verwandeln den Zuschauerraum in ein „blau-grünes Lichtermeer“, das zuerst Moglii und jetzt auch KLAN staunend von der Bühne aus betrachten. Nun hält es niemanden mehr auf den Stühlen – auch mich nicht. Das Meer aus Blau und Grün setzt sich in Bewegung, alle tanzen in ihrem markierten Bereich. Der Sicherheitsabstand trennt uns voneinander, doch wenn die Kopfhörer an sind, geht die Welt um uns herum für ein paar Stunden aus.

Headerfoto: © Daniel Kallhoff

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