Stellwerk Magazin

Oper als Utopie

Vorwort

Trotz Einhaltung strenger Hygienemaßnahmen müssen Theater und Opernhäuser, Philharmonien und Kinos noch voraussichtlich bis Ende November geschlossen bleiben. In offenen Protestbriefen kritisierten Kulturschaffende bereits im Vorfeld den neuerlich beschlossenen „Lockdown“ zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Darin bekräftigen sie, dass ihre Häuser kein Infektionsrisiko darstellen und tatsächlich konnte bisher noch keine Ansteckung von ZuschauerInnen an diesen Orten nachgewiesen werden. Vielmehr haben Kunst und Kultur in den letzten Monaten durch die Entwicklung umfangreicher, professioneller Hygienekonzepte vorbildliche und vor allem sichere Räume geschaffen, die gerade in Krisenzeiten besonders wichtig sind, um als Ort sozialer Begegnung eine Gesellschaft zusammenzuhalten. Doch die Proteste haben nichts gebracht: Wie im März fallen auch jetzt wieder alle geplanten Premieren und Vorstellungen aus. Vorhänge bleiben geschlossen und Zuschauersäle, wie der des Stuttgarter Opernhauses, bleiben vorerst leer.

© mindjazz pictures © mindjazz pictures

Wenn man nach der vorübergehenden Schließung der Kulturinstitutionen endlich wieder ins Kino gehen kann, dann sollte „Das Haus der guten Geister“ ganz oben auf der Liste stehen. Der Kino-Dokumentarfilm porträtiert die Staatsoper Stuttgart vor der Pandemie und veranschaulicht die enorme gesellschaftliche Relevanz von Kunst und Kultur. Der beeindruckende Film von Marcus Richardt und Lillian Rosa begleitet den Entstehungsprozess der Operninszenierung „Pique Dame“ von Pjotr Iljitsch Tschaikowski in der Spielzeit 2017/18 unter der Intendanz von Jossi Wieler. Hierfür beobachten die beiden FilmemacherInnen die enge Zusammenarbeit mit Chefdramaturg und Co-Regisseur Sergio Morabito, Generalmusikdirektor Sylvain Cambreling, Kostüm- und Bühnenbildnerin Anna Viebrock und den zahlreichen Gewerken des Hauses von der ersten Idee über den zehnmonatigen Probenprozess bis zur festlichen Premiere am 22. Juni 2017. Dabei geht es in erster Linie um das einzigartige Arbeits- und Führungsverständnis der Oper Stuttgart und letztlich auch um die Utopie einer Gesellschaft, wie sie sich der Schweizer Intendant erträumt: in der man aufeinander zugeht und sich gegenseitig zuhört.

Schon beim ersten Konzeptionstreffen wird deutlich, dass in Stuttgart ein sehr spezieller und ausgesprochen künstlerischer Geist herrscht. Im Gegensatz zum Großteil der Theater- und Opernhäuser, die noch immer von einem hierarchischen Leitungsstil dominiert werden, geht es unter der Führung von Jossi Wieler irgendwie leiser, achtsamer, reibungsloser und organischer zu. Er betrachtet Musiktheater als das komplexeste und kollektivste Kunstwerk überhaupt, das im offenen Dialog auf Augenhöhe integrativ und transparent gestaltet wird. Dabei ist es ihm wichtig, einen geschützten und angstfreien Raum für alle Mitwirkenden zu schaffen, damit sich das volle künstlerische Potenzial entfalten kann. So entstehen die Inszenierungen im gegenseitigen Austausch aller Gewerke, Beteiligter und dem Publikum und im tiefgreifenden Bewusstsein um die gesellschaftspolitische Verantwortung der Kulturinstitution. Dieser einzigartige Arbeitsethos hat das Haus zu außergewöhnlichen internationalen Erfolgen geführt. Insgesamt sieben Mal erhielt die Staatsoper Stuttgart in der internationalen Kritikerumfrage der Fachzeitschrift Opernwelt für die Gesamtleistung die Auszeichnung „Opernhaus des Jahres“ – häufiger als jedes andere Musiktheater der Welt.

Eine besondere Stärke der Staatsoper Stuttgart ist vor allem der Ensemblegeist. Dazu gehört sowohl die Nachwuchsförderung als auch die intensive Betreuung aller KünstlerInnen im Alltag, die es ihnen ermöglicht, sich im Schutzraum des Hauses kontinuierlich entwickeln zu können. Die Oper hat nie die Praxis betrieben, medienwirksame, große Stars zu engagieren. Stattdessen verlässt man sich in Stuttgart auf ein festes Ensemble, das sich perfekt in die vielschichtigen Arbeitsprozesse des Traditionshauses einfügt. Das sagt viel über den Geist der Stuttgarter Oper aus, dessen Wirkung weit über die Grenzen der Kulturstätte in die Gesellschaft hineinstrahlt. Dieser besondere Spirit ist für viele Musiktheater mittlerweile zu einem Vorbild geworden, die inzwischen auch wieder mehr Wert auf das eigene Ensemble legen.

Bühnebildnerin Anna Viebrock in den Werkstätten der Oper Stuttgart © mindjazz pictures Bühnebildnerin Anna Viebrock im Malersaal der Oper Stuttgart © mindjazz pictures

„Das Haus der guten Geister“ wirft einen Blick hinter die Kulissen und spürt der Sinnlichkeit des traditionsreichen Handwerks nach. Zahlreiche Interviews mit Beteiligten vor, hinter und auf der Bühne führen eindrucksvoll vor Augen, wie die Staatsoper Stuttgart funktioniert. Der Film gewährt sowohl Einblick in die Arbeit des Sprachcoachs Dmitry Kunyaev, der den SängerInnen die korrekte russische Aussprache des Librettos vermittelt, als auch in die Orchester- und Chorproben sowie den Aufbau des Bühnenbildes von Anna Viebrock. Die renommierte Bühnen- und Kostümbildnerin erzählt, wie sie mithilfe eigener Fotos aus Sankt Petersburg die Kulisse der Oper entworfen hat und vom Bild einer Passantin zum Kostüm der Sängerin Stine Marie Fischer kam. Unaufgeregt werden Interviewpassagen, Werkstattszenen und Probenphasen miteinander verknüpft, so dass sich den ZuschauerInnen Schritt für Schritt ein umfassendes Bild der komplexen Arbeitsprozesse der Gewerke des Hauses zusammenfügt.

Während es mit den Proben zu Tschaikowskis „Pique Dame“ vorangeht, stocken die Vorbereitungen für die Neuinszenierung von „Hänsel und Gretel“. Der russische Film- und Theaterregisseur Kirill Serebrennikov, dem man die erste Premiere der Saison anvertraut hatte, wurde von den russischen Behörden in seiner Moskauer Wohnung festgesetzt. Der Film zeigt, wie das Stuttgarter Opernteam mit dieser schwierigen Situation künstlerisch und organisatorisch umgeht. Obwohl er sein Engagement nicht antreten kann, hält Jossi Wieler an der Produktion von „Hänsel und Gretel“ fest. Es geht darum, Stellung zu beziehen und sich mit dem Regisseur solidarisch zu zeigen. Man entschließt sich dazu, die Inszenierung als Fragment auf die Bühne zu bringen und außerdem offensiv nicht nur die politische Situation in Russland und die Freiheit der Kunst zu thematisieren, sondern auch die Freilassung des russischen Regisseurs zu fordern. Mit der Spielzeit 2017/18 endet nach sieben Jahren die Intendanz von Jossi Wieler, der als Erneuerer des Musiktheaters gilt. Der besondere kollektive Geist des Hauses, davon ist er überzeugt, wird alles überdauern.

„Das Haus der guten Geister“ sollte ab 5. November in ausgewählten deutschen Kinos laufen. Aufgrund der aktuellen Schließungen musste der geplante Kinostart allerdings erneut auf „demnächst“ verschoben werden.

Headerfoto: Chefdramaturg Sergio Morabito und Intendant Jossi Wieler © mindjazz pictures

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