Stellwerk Magazin

Der Wald ruft

Vorwort

Seit Anfang des Jahres leben wir in einer weltweiten Pandemie, deren Ende noch immer nicht absehbar ist. Gleichzeitig erschüttern weitere Ereignisse nah und fern das Empfinden von Stabilität und Sicherheit. Angesichts dieses Krisen-Panoramas ist es nicht verwunderlich, dass viele Menschen Gefühle von Überforderung artikulieren und in alternativen Lebensentwürfen nach Lösungen suchen. Genau hier setzt Elsa Weilands Ein-Personen-Stück „Walden“ an. Auf Grundlage des gleichnamigen Buchs von Henry David Thoreau untersucht es ein Aussteigerleben im Wald und entwirft diesen als Zufluchtsort vor der Komplexität der Moderne, an dem ein selbstbestimmtes Leben möglich erscheint.

Besetzung

„Walden“ eine Koproduktion von Krux-Kollektiv, die börse wuppertal und studiobühneköln

Mit: Amelie Barth Regie: Elsa Weiland Musik: Vincent Stange und KlangKönner Video: Joseph Baader und Alexander Borowski Choreografische Mitarbeit: Sophia Otto Licht: Thomas Vella Produktionsleitung: Esther Schneider

Vor 170 Jahren zog sich der US-amerikanische Schriftsteller Henry David Thoreau in die Wälder von Concord, Massachusetts zurück, um ein Leben abseits der industrialisierten Massengesellschaft zu führen. In der Abgeschiedenheit seiner Blockhütte verfasste er „Walden“, das Schilderungen seines Lebens in der Natur und Reflexionen über das menschliche Dasein in Form von tagebuchartigen Aufzeichnungen enthält. Auch Elsa Weilands Neuinterpretation dieses Textes fragt nach der Möglichkeit eines Lebens außerhalb der Gesellschaft. Schauspiel, Tanz, Video und Musik kommen in der aktuellen Produktion des Krux-Kollektiv zum Einsatz, die vom 30. Oktober bis 1. November in der Studiobühne in Köln zu sehen war. Zwei weitere geplante Aufführungen konnten aufgrund der erneuten Verschärfung der Corona-Maßnahmen nicht mehr stattfinden.

„Weil ich den Wunsch habe, mit Überlegung zu leben“

Bedrohliche Musik und die Video-Projektion eines grauen Pflastersteinwegs, in dessen Rillen weggeworfene Zigarettenstummel neben sich mühsam hervorrankenden Grashalmen liegen – mit dieser düsteren Kulisse startet das Stück. Sie steht zugleich für den Ort, dem die Protagonistin, dargestellt von Amelie Barth, entfliehen möchte. Angetrieben von dem Wunsch „mit Überlegung zu leben“, fasst sie den Entschluss aus der Stadt in den Wald zu ziehen. Demonstrativ reißt sie die Leinwand herunter, auf der gerade noch die tristen Pflastersteine zu sehen waren. Im Wald angekommen, hofft sie sich von den bedrückenden Sorgen des Alltags zu befreien und, wie sie sagt, „das Leben auf die einfachste Formel zu bringen“. Dieser reduktionistischen Idee folgt auch die Gestaltung der Bühne, die bis auf drei herabhängende Projektionsflächen aus schweren Holzbalken zunächst komplett leer ist. Doch das Zusammenwirken von vorproduzierten Videos, eingespielten Sounds und Requisiten erschafft immer wieder atmosphärisch dichte und visuell spannende Kulissen, in denen Amelie Barth ihr Spiel entfalten kann. Ausgestattet mit den wichtigsten Utensilien bezieht die Aussteigerin ihre idyllische Waldhütte. Hier plant sie selbstbestimmt und frei von gesellschaftlichen Zwängen zu leben. Doch auf die erste Euphorie folgt schnell die Melancholie. Die junge Frau beklagt das entfremdete Verhältnis zwischen Mensch und Natur und versucht, sich dieser wieder anzunähern.

Wir beobachten, wie die Aussteigerin zunehmend nach dem Maß der Natur lebt. In tanzenden Bewegungen schlängelt sie die von ihr angebauten Bohnenranken behutsam und liebkosend um ihren Körper. Sie lobt den Wachstumsfortschritt ihrer Pflanzen und berichtet, dass die Feldarbeit nun ihre Tagesaufgabe sei. Losgelöst von künstlich festgelegten Abläufen richtet sich die junge Frau nach dem natürlichen Lauf des Tages. In den von Joseph Baader und Alexander Borowski vorproduzierten Videos wird gezeigt, wie sie sich ihre eigene kleine Welt schafft. Man sieht, wie die Aussteigerin stolz von den Bergen auf ihren Wald hinabschaut. Durch ein Megafon rufend erhebt sie alleinigen Anspruch auf die sie umgebende Natur. Anschließend nimmt sie überschwänglich an einem im Wald aufgestellten Tisch Platz. Hier erleben wir eine Verwandlung der jungen Frau hin zum Animalischen: Mit jedem Biss vergisst sie ein Stückchen mehr ihre Etikette und tauscht letztlich die Gabel gegen ihre Hände. Begleitet von hektischer Musik folgt auf der Bühne ein ungezügelter Tanz der Protagonistin, in dessen Verlauf sie sich die Kleidung vom Körper reißt; die Aussteigerin verliert sich zusehends im Wahn. Kaum ist sie aus diesem erwacht, muss die junge Frau einsehen, dass sie ziemlich einsam ist.

Amelie Barth © Christian Herrmann Amelie Barth © Christian Herrmann

Im weiteren Verlauf des Abends folgen die Szenen eher collagenhaft aufeinander. Abwechselnd liegt der Fokus dabei mal auf dem Bühnengeschehen und mal auf den Videoprojektionen, was eine schöne Dynamik für das Spiel von Amelie Barth erzeugt. In einer Szene betritt diese plötzlich in der Rolle einer Vertreterin der „Lebensluft AG“ die Bühne. Denn während sich die Aussteigerin im Wald mit grundlegenden Existenzfragen auseinandersetzt, geht der habgierige Lebensstil der Gesellschaft weiter. Frische Luft ist inzwischen zum Produkt geworden, das in Plastiktüten verkauft und werbewirksam angepriesen wird.

Kurz darauf begegnen wir Barth wieder als Aussteigerin, die eine Rede an den Wald hält und ihn dazu aufruft, doch endlich etwas gegen den Klimawandel zu tun. Der Schauspielerin gelingt es im Verlauf der schnellen Szenenwechsel immer wieder unterschiedliche Stimmungen zu erzeugen: Während der Auftritt als Frischluft-Verkäuferin witzig und komödiantisch daherkommt, regt die Ansprache an den Wald eher zum Nachdenken an. Die Menschheit, die sich zunehmend von der Natur entfernt hat und lediglich ausbeuterisch in sie eingreift, sieht sich durch die Veränderung der Umwelt in ihrer Existenz bedroht. Das nun zum Problem des Waldes zu machen, lässt sich als scharfzüngige Kritik am Umgang mit der Klimakatastrophe lesen.

Letztlich entpuppt sich das isolierte Leben im Wald jedoch als perspektivlos. Die Aussteigerin fasst den Entschluss in die Stadt zurückzukehren und hier mithilfe der gesammelten Erfahrungen das Leben neu zu gestalten. Die vom Krux-Kollektiv präsentierte Aktualisierung von H.D. Thoreaus Aussteigerexperiment ist schließlich weniger an der Ausgestaltung einer Zivilisationsabkehr interessiert, als am Kampf um den Umgang mit gesellschaftlich relevanten Themen. Der Abend präsentiert eine Suche nach Lösungen für eine bessere Zukunft, die anschlussfähig ist und viele aktuelle Fragen aufwirft. So wie die Aussteigerin können auch wir Vorstellungen über die Gestaltung eines neuen und besseren Lebens formulieren. Doch in der Einsamkeit der Wälder verhallen solche Entwürfe – es braucht ein Gegenüber.

Headerfoto © Christian Herrmann