Stellwerk Magazin

„Ich war es nicht“

Vorwort

Ein sonniger Frühlingsmorgen, ein idyllisches Birkenwäldchen, ein ominöser Brief auf dem Waldboden: „Sie hieß Magda. Niemand wird je erfahren, wer sie ermordet hat. Ich war es nicht. Hier ist ihre Leiche.“ Ein makabrer Scherz? Ein Trick? Doch wer würde Vesta Guhls Leben so durcheinanderbringen wollen? Die vereinsamte Witwe spürt, dass sie auf etwas Düsteres gestoßen ist. Die merkwürdige Nachricht lässt sie nicht mehr los. Ihr Leben gerät schleichend aus dem Takt. Und plötzlich erscheint ihr jeder in der heruntergekommenen Kleinstadt Levant verdächtig.

Ottessa Moshfegh © Jake Belcher Ottessa Moshfegh © Jake Belcher

„Der Tod in ihren Händen“ (im Original: „Death in Her Hands“) von Ottessa Moshfegh erschien am 25. Januar in der Übersetzung von Anke Caroline Burger bei Hanser Berlin. Bereits in ihrem Debütroman „Eileen“ (2017) spielte die 1981 geborene Autorin mit eskapistischen Motiven. Zuletzt schickte Moshfegh ihre Protagonistin in „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“ (2018) in einen medikamentös induzierten „Winterschlaf“. Die New Yorkerin mit persisch-kroatischen Wurzeln thematisiert an ihren Figuren sehr feinfühlig Überlebensstrategien für ein scheinbar auswegloses Dasein. Für ihre Werke wurde sie bereits mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Hemingway Foundation PEN Award.

Abrupt wird die 72-jährige Vesta aus dem schützenden Kokon ihres selbstgewählten Einsiedlertums in einer abgelegenen Waldhütte gerissen und beginnt eigenständig zu ermitteln. An die Autoritäten kann sie sich nicht wenden. Wer sollte ihr auch glauben? Ein Leichnam, geschweige denn handfeste Beweismittel sind nicht vorhanden. Dennoch lässt Magdas Schicksal die Witwe nicht mehr los. Sie verstrickt sich immer tiefer in ihren Recherchen und verliert sich im Sog ihres eigenen Gedankenstroms. Das Opfer gewinnt in ihrer Fantasie an Kontur und fesselt bald ihre ganze Aufmerksamkeit. Magdas Biografie schält sich aus dem Dunkeln von Vestas Vorstellungskraft: Sie ist keine typische Schönheit, imaginiert Vesta, dennoch durchaus hübsch mit einer schlanken, athletischen Figur. Ihre Attraktivität bleibt auch den grobschlächtigen Männern in Levant nicht verborgen. Vesta konstruiert eine junge Frau, die den Übergriffigkeiten in der verwahrlosten Kleinstadt schutzlos ausgesetzt ist, sich aber dennoch eine gewisse Resilienz zugelegt hat: Sie ist stolz auf das hart verdiente Geld, tritt den Widrigkeiten ihres Lebens aggressiv entgegen und trägt stets ein kleines schwarzes Springmesser mit. Magda ist Vesta auf Anhieb sympathisch, was nicht einer gewissen Ironie entbehrt – ist sie doch ausschließlich ihrer eigenen Fantasie entsprungen.

Während ihrer Ermittlungen weitet Vesta den Kreis der Verdächtigen immer weiter aus. Bald verschwimmt die Trennlinie zwischen Fantasie und Realität. Die ältere Frau wandelt auf Magdas Spuren und findet zu sich selbst. Dabei zeichnet sich die Konfrontation mit einer verdrängten Vergangenheit unausweichlich ab. Erste Risse zeigen sich in der rationalen Weltwahrnehmung der Rentnerin, die anfangs durch ihre Resolutheit und Aufgeräumtheit sehr glaubwürdig wirkt. Das Abgleiten in den Wahnsinn ist ein schleichender Prozess und lässt sich lange nicht eindeutig diagnostizieren. Doch im Verlauf der Lektüre wird deutlich: Das enge Korsett ihrer gesellschaftlichen Rolle und ihr rechthaberischer Ehemann hatten Vesta Guhl erstickt.

Auf subtile Art gelingt es der Autorin immer wieder die traumatischen Erlebnisse ihrer Protagonistin in deren Ehe mit einem renommierten Erkenntnistheoretiker zu streifen. Missbrauch und Übergriffigkeiten durch ihren verstorbenen Ehemann Walter Guhl lassen sich lediglich in Doppeldeutigkeiten erahnen, die mitunter in orthografischen Auffälligkeiten versteckt sind: „Ich spürte, dass einer der Verdächtigen ein Monster sein musste, ein Ghul, ein dunkles, haariges Ding, das aus dem Schatten gesprungen kam und sich im Dunklen auf einen stürzte, eine Ausgeburt des Zorns […]1Moshfegh, Ottessa: Der Tod in ihren Händen. Berlin: Hanser Verlag 2021. S. 95..

Mit Vesta Guhl erschafft Moshfegh eine äußerst facettenreiche Figur, die sehr lebensnah wirkt. Eindrücklich illustriert die Autorin, wie Einsamkeit gepaart mit lebenslanger Verdrängung ihren Tribut fordert. Vestas Vergangenheit holt sie ein und so mag es kaum ein Zufall sein, dass das „h“ in ihrem Nachnamen im Verlauf der Erzählung beinahe unbemerkt um eine Stelle nach vorne wandert. Vestas Realitätsverlust steht ein immer deutlicheres Erkennen des eigenen Inneren gegenüber. Ein erschütternder Prozess, der zur Abrechnung mit einem bis ins kleinste Detail fremdbestimmten Leben gerät: „Er [Walter] sagte mir gern, ich sei die Quelle meines Unglücks – dass ich glauben wollte mein Leben sei langweilig und eingeschränkt.“2Ebd. S. 91..

Wer auf behagliche Kleinstadtkrimi-Atmosphäre samt gepflegtem Mord gehofft hat, für den mag „Der Tod in ihren Händen“ nicht die richtige Bettlektüre sein. Für alle anderen jedoch legt die Autorin hier äußerst feinfühlig die Bruchstellen eines Lebens frei, das, gemessen an sozialen Standards, als absolut erstrebenswert gelten mag. Eine Leiche gibt es nicht, dafür jedoch ein Opfer mit schwersten Verletzungen. Moshfegh platziert ihre Figur im Spannungsfeld zwischen einem auf den ersten Blick eher seichten Kriminalroman und einer anspruchsvollen Vergangenheitsbewältigung. Krimi-Klischees, wie die schläfrige Kleinstadt, Mittelschichtsexistenzen, deren Verkommenheit nur dürftig durch gepflegte Vorgärten kaschiert wird sowie ein auf raue Art attraktives, sexuell umtriebiges Opfer treffen hier auf tiefenpsychologische Mosaikarbeit. Diese ungewöhnliche Verknüpfung macht „Der Tod in ihren Händen“ zu einer absoluten Leseempfehlung.

Headerfoto: © Anne Wolff

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