Stellwerk Magazin

Rilke ruft an – Lyrik auf Bestellung

Vorwort

Selbst unter Kulturbegeisterten fristet die Lyrik ein Nischendasein. Vielen gilt sie als schwer zugänglich, fast schon elitär. Ein Projekt des Staatstheaters Stuttgart und des Deutschen Literaturarchivs Marbach stellt nun diese Textgattung in den Mittelpunkt, um auch in Pandemiezeiten mit dem Publikum in Kontakt zu bleiben.

Stuttgarter Ensemblemitglied Reinhard Mahlberg © Maks Richter Stuttgarter Ensemblemitglied Reinhard Mahlberg © Maks Richter

„Das ist meine Art von Homeoffice“, sagt Reinhard Mahlberg. Am Schreibtisch zu Hause und mit seinem privaten Telefon ruft der Schauspieler auf Wunsch Menschen an und liest ihnen Gedichte vor. Wie die Person am anderen Ende der Leitung reagiert, ist jedes Mal unterschiedlich: Einige sind ganz still und hören einfach zu, einige murmeln bei bekannteren Gedichten mit, manche suchen ein Gespräch über die Texte und deren AutorInnen. Solche Telefonate führt Reinhard Mahlberg jede Woche. Er ist Teil des Lyriktelefons, einer Kooperation des Schauspiel Stuttgart mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach. Über die Homepage des Theaters können sich Lyrikinteressierte kostenlos einen Zeitslot buchen. Zum vereinbarten Termin ruft ein Schauspieler oder eine Schauspielerin aus dem Stuttgarter Ensemble an und liest eine Auswahl an Gedichten vor. Montags bis freitags ab 17 Uhr wird der Dienst angeboten.

Das Lyriktelefon startete als Projekt schon während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020. „Am Anfang war es eigentlich nur eine witzige Idee – und dann wurde es immer erfolgreicher“, sagt Jan Bürger vom Deutschen Literaturarchiv Marbach. Zusammen mit dem Schauspieldramaturg Ingoh Brux belebte er eine Idee wieder, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Menschen Theatervorstellungen und Opern live in die Wohnzimmer brachte: Wer nicht persönlich im Vorstellungssaal sitzen konnte, hatte die Möglichkeit über das „Théatrophone“ einer Aufführung zu lauschen. Ein Modell, das in Zeiten der Pandemie völlig unverhofft zu neuer Popularität gelangt. „Wir kamen im Gespräch schnell darauf, Gedichte zu nehmen“, sagt Jan Bürger. In ihrer Kürze kämen sie früheren Telefongesprächen sehr nahe und außerdem sei 2020 in Marbach ein großes Lyrikjahr geplant gewesen.

Die ausgewählten LyrikerInnen stehen in Verbindung zum Literaturarchiv Marbach, zum Beispiel weil ihre Handschriften dort aufbewahrt sind. Angefangen hat es mit Gedichten von Paul Celan und Friedrich Hölderlin; wegen der großen Nachfrage wurden aber bald weitere DichterInnen ins Programm des Lyriktelefons genommen. Dabei eignen sich längst nicht alle Gedichte zum Vorlesen am Telefon. Einige sind zu komplex oder zu lang und schließlich werden in vielen Werken auch erschütternde Erfahrungen thematisiert: „Bei Paul Celan und Nelly Sachs hatten wir das Problem, dass die Texte dermaßen unmittelbar die Shoah in Erinnerung rufen, dass die Leute das bei einer Telefonlesung möglicherweise einfach nicht aushalten“, sagt Jan Bürger. „Da muss man vorsichtig sein, man kann nicht alles lesen“.

Der direkte Kontakt von Mensch zu Mensch: vielen fehlt das momentan. Am Telefon entsteht eine besondere Art der Intimität. Die Reduktion auf die Sprache, auf das Gehörte – die Intensität der Gedichte wird auf diese Weise eher spürbar, als dass man sie wirklich begreift. Die Lesungen sind ein kleiner Live-Moment, den so viele in diesen Zeiten sehr vermissen. Die anfängliche Befürchtung, dass AnruferInnen eine Art Telefonseelsorge erwarteten, habe sich nicht bewahrheitet. Zu so etwas sei er als Schauspieler auch nicht ausgebildet, meint Reinhard Mahlberg. Seelsorge treffe es nicht ganz, aber er habe schon den Eindruck, mit den Lyriklesungen Seelen zu versorgen. „SeelVERsorge-Telefon“, nennt er es.

Schauspieler Elmar Roloff im Literaturarchiv Marbach © Björn Klein Schauspieler Elmar Roloff im Literaturarchiv Marbach © Björn Klein

„Es läuft etwa so ab, dass ich mich melde und sage, dass ich vom Staatstheater Stuttgart anrufe und dass da Lyrik bestellt worden sei und ich die jetzt per Telefon liefere“; so pragmatisch beschreibt Reinhard Mahlberg seinen Arbeitsalltag als Lyrikbote. Eine konkrete Zielgruppe kann er bei der Aktion nicht ausmachen. „Vielleicht gibt es eine gewisse Häufung bei älteren weiblichen Anruferinnen“, überlegt er. Vor allem seien es aber Menschen, die Lust auf Lyrik haben. Und das sind für gewöhnlich gar nicht so viele. „In jedem Theater, in jedem Verlag muss man für Lyrik erst einmal kämpfen, weil es immer heißt, dafür interessiere sich niemand“, meint Jan Bürger. Jetzt, wo der Standort keine Rolle spielt, erschließt sich ein viel größeres Publikum. „Plötzlich kann man wieder Sachen ins Gespräch bringen, die sonst der Quote zum Opfer gefallen wären.“

Reinhard Mahlberg betrachtet das etwas weniger optimistisch. „Ich möchte das jetzt keinesfalls als Dauerangebot des Theaters verstanden wissen“, meint er und ergänzt: „Das öffnet Finanzierungskritikern von Kultur und Theater Tür und Tor. Die sagen dann: Na bitte, reicht doch auch am Telefon.“ Dass das Lyriktelefon so gut angenommen wird, freut ihn zwar, aber für ihn ist der Erfolg auch relativ: „Wenn ich drei Telefonate am Tag führe und das 20 Tage im Monat, dann sind das 60 Menschen, die ich im Monat erreiche. Mit einer Theateraufführung erreiche ich das Zehnfache.“ So schön es ist, mit einem Teil des Publikums Kontakt halten zu können; am Ende ist das Lyriktelefon auch nur ein Kompromiss, um aus dieser Zeit das Bestmögliche herauszuholen.

Reinhard Mahlberg ist froh, trotz Lockdown etwas tun zu können. Besonders, wenn er an seine freien KollegInnen denkt. Als Mitglied des Stuttgarter Ensembles bekommt er zumindest einen Teil seines Gehaltes weiterhin gezahlt. Vielen KünstlerInnen ohne Festanstellung fehlen seit etwa einem Jahr Aufträge und damit auch ein Einkommen. Für die kulturelle Vielfalt in Deutschland wäre es dramatisch, wenn diese Menschen ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen könnten. Das Lyriktelefon ist zwar ein kostenloses Angebot, das Staatstheater bittet aber um eine freiwillige Spende für freischaffende KünstlerInnen in Stuttgart. Das Projekt soll mindestens solange der Lockdown andauert und das Theater für das Publikum geschlossen bleiben muss, weitergeführt werden. Im nächsten Zyklus werden es Gedichte von Erich Kästner und Mascha Kaléko sein, die den Angerufenen durch eine sonst so kulturarme Zeit helfen sollen.

Headerfoto: Katharina Hauter © Björn Klein

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Hier findet ihr weitere Informationen zum Lyriktelefon und Buchungsmöglichkeiten auf der Website des Schauspiel Stuttgart