Stellwerk Magazin

True Crime: Das heimliche Spähen durchs Schlüsselloch

Vorwort

Stell dir vor, eine dir nahestehende Person fällt einem Verbrechen zum Opfer und deren Schicksal wird posthum als moderne Schauergeschichte aufbereitet, um schließlich von fremden Menschen konsumiert zu werden – nach Feierabend, auf Knopfdruck. Wahre Kriminalfälle sind längst fester Bestandteil der Unterhaltungsindustrie. Doch was macht das Narrativ True Crime mit uns, unserer Moral, der Wahrheit und den Beteiligten?

Das Angebot der True-Crime-Formate ist riesig: immer neu erscheinende Netflix-Reportagen, Podcasts, die die Charts anführen, Bücher, die zu Bestsellern werden und Hochglanzmagazine, die eine treue Leserschaft haben. Irgendwie beruhigend, dieser Hype. Denn dann komme ich mir auf der morgendlichen Bahnfahrt zur Arbeit weniger komisch vor, wenn die Stimmen von Sabine Rückert und Andreas Sentker in meinen Ohren ertönen und mir einen Fall versprechen, der an Monstrosität nicht zu überbieten sei, während ich einer älteren Dame lächelnd meinen Sitzplatz anbiete. Die Frage, ob mit mir etwas nicht stimmen könnte, weil ich fasziniert dabei zuhöre, wie ein anderer Mensch auf brutalste Weise sein Leben verliert, stellt sich mir kaum noch. 75.000 verkaufte Exemplare der Erstausgabe des Stern Crime Magazins im Jahr 2015 und rund 420.000 HörerInnen des Podcasts Mordlust (laut einer Erhebung der Beratungs- und Forschungsgruppe Goldmedia aus dem Sommer 2020) machen deutlich, dass ich damit nicht allein bin.

Der große Boom beginnt 2014, als die amerikanische Journalistin Sarah Koenig für ihren Podcast Serial den Fall des verurteilten Mörders Adnan Syed neu aufrollt, der 1999 seine Ex-Freundin Hae Min Lee ermordet haben soll. Die zwölf Folgen sind so intensiv und aufwendig recherchiert, dass der Fall sogar erneut vor Gericht landet. Mit über 80 Millionen Aufrufen des Erfolgspodcasts wurde das Genre True Crime wiederbelebt. Die eigentliche Geburtsstunde des Unterhaltungsformats wird zumeist auf 1965 datiert. In diesem Jahr erscheint der Roman „Kaltblütig“ von Genre-Gründervater Truman Capote. Der Bestseller rekonstruiert den Mord an der vierköpfigen Familie Clutter, die auf ihrem Anwesen in Westkansas sechs Jahre vor Erscheinung der literarischen Sensation umgebracht wird. Der „non-fiktionale“ Roman beweist, dass die Realität manchmal spannender ist als ein ausgeklügelter Thriller. Ein ähnlicher Werdegang lässt sich in Deutschland beobachten: Die Fernsehsendung Aktenzeichen XY … ungelöst flimmert hierzulande erstmals 1967 über die Bildschirme und erlebt 2015 ihr Quoten-Hoch.

Doch woher stammt unsere Faszination für das Böse? Psychiater Theo Payk, der 2008 sein Buch „Das Böse in uns“ veröffentlichte, erklärt, dass Menschen vom Ungewöhnlichen angezogen werden. Vielleicht möchten wir beim Lauschen eines True-Crime-Podcasts unserem Alltagstrott entkommen, wenn wir in eine fremde Wirklichkeit fliehen. Möglicherweise sind wir auch fasziniert davon, dass die TäterInnen zu etwas fähig sind, was wir selbst niemals tun würden. So oder so: Das heimliche Spähen durchs Schlüsselloch bringt unser Blut in Wallung. Ähnlich ging es vermutlich BürgerInnen, die einst zahlreich zu öffentlichen Hinrichtungen strömten mit dem Gefühl der Erleichterung im Gepäck, dass sie es nicht sind, die da oben stehen werden. Jemand anderem widerfährt das Leid, wohingegen die Schaulustigen aus sicherer Distanz zusehen können. Wir müssen nicht in die Vergangenheit reisen, um dieses Phänomen zu beschreiben – die GafferInnen auf deutschen Autobahnen zeigen, dass der Mensch auch heute noch nicht davor zurückschreckt, seine Faszination für das Leid anderer kundzutun. Womit wir zu einer weiteren Erklärung für die Faszination des Bösen kommen: Die Bildungsforscherin Sylvia Kesper-Biermann zieht in einem Interview mit dem Hamburger Abendblatt die Emotionsforschung heran. Sobald moralische Grenzen überschritten werden, empfinden wir einerseits Abscheu und Ekel, andererseits Lust, erklärt sie. Diese Mischung bereite uns Vergnügen, besonders dann, wenn zwischen uns als RezipientInnen und dem Leid anderer die nötige Distanz besteht.

Diese Distanz ist beim Konsum verschiedenster True-Crime-Formate in jedem Fall gewährleistet. Wir befinden uns nämlich in Sicherheit, während wir das aufbereitete Material in uns aufsaugen, das meist aus Beschreibungen des Tathergangs, der Biografie von TäterInnen und Opfern, dem Gerichtsprozess, medialer Berichterstattung, O-Tönen von AugenzeugInnen oder Informationen zur Rechtslage besteht. Da kann es schnell passieren, dass wir zu Hobby-JuristInnen oder –ErmittlerInnen mutieren. Social Media, Online-Communities und Co. bieten einen geeigneten Raum, um unsere Gedanken mit Gleichgesinnten zu teilen. Was nach einem ungewöhnlichen Zeitvertreib klingt, hat in der Vergangenheit tatsächlich das ein oder andere Mal dazu beigetragen, einen unaufgeklärten Mord zu lösen. Die Autorin Michelle McNamara beispielsweise half als Hobby-Ermittlerin, den sogenannten Golden State Killer hinter Gitter zu bringen.

Aber nicht jeder, der etwas zu einem Fall zu sagen hat, sollte das auch tun. True-Crime-Formate können dazu beitragen, dass Sympathien mit TäterInnen und Antipathien mit Opfern entstehen. So geschieht es Natascha Kampusch, die acht Jahre von ihrem Peiniger Wolfgang Přiklopil im Keller seines Hauses festgehalten wurde, bis ihr 2006 endlich die Flucht gelang. Bis heute wird sie im Internet dafür angefeindet, dass sie sich nicht so verhalte, wie es von einem Opfer erwartet wird. Nicht selten werden zugleich Sympathien für MörderInnen erzeugt, indem deren Schicksalsschläge und leidvolle Kindheitsgeschichten zur Darstellung kommen. Um ein breites Publikum anzusprechen und mehr Spannung in einen Fall zu bringen, werden Fakten auf eine bestimmte Wirkung hin arrangiert oder weggelassen; der Tathergang häufig dramatisch zugespitzt. So lebt das Genre auch von der Frage: Ist der/die TäterIn es tatsächlich gewesen? – Denn Justizirrtümer kommen schließlich vor. Der/die MörderIn wird häufig uneindeutig dargestellt, um die Spannung aufrecht zu halten. Auf diese Weise wird ein Blick in die Seele des Menschen geboten, der es uns ermöglicht, mitzufiebern. Nach diesem Prinzip funktioniert auch die True-Crime-Erfolgsserie Making a Murderer, die 2015 auf Netflix erscheint. Nun könnte man meinen, dass es löblich ist, die komplexe Innenwelt eines Menschen in den Mittelpunkt eines Unterhaltungsformats zu stellen und diese vielschichtig zu beleuchten. Ist es auch, keine Frage. Aber ist die Hauptmotivation des Streaming-Anbieters Netflix, der im Jahr 2020 einen Gewinn von 2,76 Milliarden US-Dollar erzielte, tatsächlich der aufklärerische Ansatz?

Und was ist eigentlich mit der Frage nach der Moral? Denn letzten Endes wird aus wahren Mordfällen, aus dem Schicksal realer Opfer, aus ihrer Angst, ihrer Verzweiflung und dem Leid ihrer Familien ein Unterhaltungsgeschäft, dessen MacherInnen wir fleißig unser Geld in die Hände drücken. Der Hype ist an mancher Stelle sicherlich ein Segen, wenn das öffentliche Interesse dazu beiträgt, die Wahrheit ans Licht zu bringen und mögliche Justizirrtümer aufzudecken. Auch die Anregung zur Auseinandersetzung mit der menschlichen Psyche kann einen wertvollen aufklärerischen Beitrag leisten. Doch – und jetzt kommen wir zur Kehrseite des Erfolgsgenres und den moralisch verwerflichen Aspekten – darf den Betroffenen zum Zwecke der Unterhaltung niemals noch mehr Leid widerfahren, als sie bereits durchmachen mussten. Etwa durch Fake News zum Fall, durch sogenanntes Victim Blaming oder skurrile Hypes um MörderInnen wie Charles Manson. Lasst uns also respektvoll, bewusst und zurückhaltend mit den Schicksalen realer Menschen umgehen, solange wir auf die Erscheinung des neuen Fitzeks warten.

Headerfoto: Pixabay