Stellwerk Magazin

Die Illusion einer Generation

Vorwort

„Susan Sontag der Millennials“, „Joan Didion unserer Zeit“, „die zentrale Stimme ihrer Generation“ – ein Blick in die internationale Presse macht deutlich: Jia Tolentino muss sich und ihre Arbeit wahrlich nicht verstecken. Die US-amerikanische Autorin startete mit ihrem Essayband „Trick Mirror. Über das inszenierte Ich“ den Versuch, sich selbst und ihrer Generation den Spiegel vorzuhalten. Dabei reicht das Themenspektrum der neun im Band enthaltenen Essays vom Reality-TV der 2000er Jahre über Scamming-Kultur bis hin zum medialen Umgang mit Vergewaltigungsfällen und der Kommerzialisierung von Frauenbildern. Dreh- und Angelpunkt der Essaysammlung bleibt jedoch die Selbsttäuschung.

Jia Tolentino © Elea Mudd Jia Tolentino © Elea Mudd

„Ich will nicht für diesen Scheiß hier berühmt werden. Ich will berühmt werden, weil ich ein Buch geschrieben habe.“1Tolentino, Jia: Trick Mirror. Über das inszenierte Ich. Frankfurt: S. Fischer Verlag 2021. S. 85., sagt die damals sechzehnjährige Jia Tolentino im Jahr 2004 in einer Reality-Game-Show zu einem Co-Kandidaten. Mehr als eine Dekade später kann man festhalten: es ist ihr gelungen. 2019 erscheint ihre Essaysammlung “Trick Mirror. Reflections on Self-Delusion” bei Penguin Random House und wird prompt ein New York Times Bestseller. Ende Februar 2021 folgt die deutsche Erstausgabe beim S. Fischer Verlag in der Übersetzung von Margarita Ruppel. „Überlegungen zur Selbsttäuschung“ – so ließe sich der englische Original-Untertitel von „Trick Mirror“ wohl wortwörtlich übersetzen. Die Inszenierung unseres Ichs im Millennial-Zeitalter steht im Mittelpunkt aller Essays. Doch was genau soll das bedeuten?

Der Band widmet sich einem breit gefächerten Spektrum an Themen. Diese ergeben sich meist aus persönlichen Erfahrungen von Tolentino oder haben aktuelle gesellschaftspolitische Diskurse als Aufhänger. Häufig führt auch das eine zum anderen. Genau dieses Verhältnis von Individualität und Kollektivität ist für den Essayband charakteristisch. In manchen Texten schildert Jia Tolentino so viele dieser individuellen Erfahrungen und erzählt zudem in chronologischer Reihenfolge von verschiedenen Lebensabschnitten, dass sich „Trick Mirror“ zuweilen autobiografisch liest. Trotzdem schafft sie es immer wieder die Brücke zu schlagen und ihre persönliche Perspektive als eine von vielen Millennials sichtbar zu machen. Vielleicht schließt sie auch nur von sich auf andere, von ihren persönlichen Erfahrungen auf den Zeitgeist einer ganzen Epoche – dennoch trifft sie damit genau ins Schwarze.

Über die Autorin: Jia Tolentino kam 1988 als Kind philippinischer Einwanderer in Toronto zur Welt. Im Alter von vier Jahren zog sie mit ihren Eltern nach Houston, wo sie als Mitglied einer protestantischen Kirche ihre Kindheit und Jugend in einem streng religiösen Umfeld verbrachte. Nach ihrem Highschool-Abschluss studierte sie Kreatives Schreiben und Literatur in Virginia und Michigan. „Trick Mirror“ ist ihr erstes Buch und als New York Times Bestseller direkt ein großer Erfolg. Mediale Aufmerksamkeit wurde der Autorin aber schon vorher zuteil, etwa durch ihre Arbeit als Kulturkritikerin für Magazine wie den New Yorker und – wie fast jeder in der Medienbranche tätige Millennial – durch pointierte, gesellschaftskritische Tweets.

Ein ideales Beispiel hierfür ist etwa der erste Essay über Das Ich im Internet: Tolentino leitet damit ein, ihre ersten Berührungspunkte mit dem „Web 1.0“2Ebd. S. 19. als Zehnjährige zu schildern, bis hin zu ihrem heutigen Selbstentwurf im „Web 2.0“3Ebd. aka der „fieberhaften, elektronischen, unerträglichen Hölle“4Ebd. S. 21.. Daran anschließend widmet sie sich der ersten von vielen Selbsttäuschungen, die sie in erster Linie Millennials zuschreibt: unsere Profilierung im Netz. Diese rund um die Uhr stattfindende Performance vor einem immer stärker expandierenden Publikum sei „wie ein nie endendes Vorstellungsgespräch“5Ebd. S. 30.. Diese Erkenntnis über Inszenierungs-Mechanismen liefert den roten Faden der folgenden Essays. Tolentino beschreibt diverse Schauplätze der öffentlichen Wahrnehmung, an denen wir unsere Identität konstruieren, wir uns verstellen, inszenieren, profilieren – manchmal vorsätzlich, manchmal ganz unbewusst. Mit diesen Verhaltensmustern täuschen wir andere ebenso sehr wie uns selbst und lassen uns wiederum von den Performances unseres Umfelds trügen. Selbstdarstellung im Reality-TV, das Ich im Zeitalter der ewigen Selbstoptimierung, die Rolle von ekstatischen Erfahrungen bei der eigenen Identitätssuche, Hochstapelei als Krönung der Selbstinszenierung – dies sind nur einige der vielen Bereiche, die in den einzelnen Essays erkundet werden.

Jia Tolentino arbeitet sich also anhand verschiedener Kontexte an Selbsttäuschungsmechanismen von Millennials ab. Dabei stellt sie zum einen ihre scharfsinnige Beobachtungsgabe unter Beweis, indem sie konkret inszenierende Verhaltensweisen bei sich und anderen MitstreiterInnen ihrer Generation zur Schau stellt. Zum anderen übt sie Kritik an den Umständen, an Vorkommnissen und gesellschaftlichen Debatten der letzten Jahre, die sie unausgesprochen als eine Art Millennial-Ära zu definieren scheint. Ihren Vorhaltungen verleiht sie dabei ganz im Meme- und Twitter-Duktus in ungemein scharfsinnigen und pointierten Formulierungen Ausdruck. So wirft sie beispielsweise im Hinblick auf feministische Body-Positivity-Bewegungen die Frage auf, warum unsere Gesellschaft der Auseinandersetzung mit Äußerlichkeiten überhaupt so viel Raum gibt, und ob nicht der richtige Weg wäre, „Schönheit weniger wichtig [zu] machen“6Ebd. S. 105.. Sie kritisiert, dass der heutige Feminismus nur neue, vermeintlich realistischere Maßstäbe für das weibliche Erscheinungsbild setzt, anstatt Schönheitsbelange ganz außer Acht zu lassen und sich den tatsächlichen Problemen von Frauen zu widmen, wie etwa deren strukturelle Benachteiligung gegenüber Männern im Arbeitsalltag. Damit deckt sie zwei miteinander verknüpfte Trugbilder auf: Die Influencer-, Mode-, und Beautyindustrie, die uns in Form sogenannter „Self-Care“-Produkte letztlich nur eine weitere Selbsttäuschung verkauft, und unsere eigene Manipulierbarkeit hinsichtlich gesellschaftlicher Zwänge zur Selbstoptimierung.

„Schreibt man gegen etwas an, verleiht man dieser Sache Stärke, Raum und Zeit.“7Ebd. S. 289. – eine treffende Erkenntnis, die die Autorin selbst im Verlauf der Essaysammlung gewinnt. Mit „Trick Mirror“ schreibt Jia Tolentino gegen Vieles an. Die Schlussfolgerungen, die sie zieht, sind allerdings nicht einfach ungefiltert hinzunehmen. Sie schreibt aus zwei Perspektiven: aus der weiblichen und aus der der amerikanischen Mittelschichtsgesellschaft. Für die Leserschaft bedeutet das vor allem eins: je stärker die eigenen Lebensbedingungen denen der Autorin ähneln, desto eher kann man sich mit dem Geschriebenen identifizieren, desto mehr der aufgezeigten Millennial-Mechanismen erkennt man an sich und seinem eigenen Umfeld wieder. Vor allem online-affine LeserInnen der sogenannten westlichen Welt werden viele der im Band besprochenen Selbsttäuschungs-Strukturen verstehen und reproduzieren. Wie wir es schaffen, diese Inszenierungs-Mechanismen abzulegen und die permanente Performance zu beenden, bleibt jedoch offen. Jia Tolentino zeigt in ihren Essays auf, wie man (Selbst-)Betrug entlarvt, aber nicht wie man ihn verhindert. Auch wenn sie durchaus in einigen Diskursen neue Perspektiven eröffnet und Denkanstöße gibt, ist und bleibt „Trick Mirror“ ein Essayband und kein Ratgeberbuch. Und das ist ausnahmsweise mal ein Punkt, in dem sich die Autorin nichts vormacht: „Ich wollte sehen, wie man beim Blick in den Spiegel sieht. Kann sein, dass ich stattdessen ein hochkompliziertes Wandgemälde erschaffen habe.“8Ebd. S. 14f.

Headerfoto: © Stella Mazzeo

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