Stellwerk Magazin

Zeichen auf Beton

Vorwort

„TRANSIT – Vorübergehende Literatur am Ebertplatz“ lädt PassantInnen und BesucherInnen ein, Gegenwartsliteratur im öffentlichen Raum zu erleben. Seit dem 9. April laufen für eine Dauer von fünf Wochen von 9 Uhr morgens bis 23 Uhr abends Texte über ein 50 Meter langes LED-Band. Das Projekt ist nicht bloß der Versuch, Kunst wieder öffentlich stattfinden zu lassen – TRANSIT ist in vielerlei Hinsicht zum politischen Statement geworden. Das Projekt wurde von der Initiative Unser Ebertplatz initiiert, die gemeinsam mit zahlreichen AkteurInnen der Kölner Literaturszene Anfang des Jahres einen Open Call gestartet hatte. Aus einer Vielzahl von Einsendungen wurden schließlich 31 Beiträge von verschiedenen AutorInnen ausgewählt, die sich in ihren nur 600 Zeichen langen Texten auf Deutsch, Englisch, Türkisch und Dänisch mit großen Themen auseinandersetzen: Mit der Geschichte des Ebertplatzes, der Coronakrise, aber auch Ausgrenzungs- und Stigmatisierungserfahrungen.

© Astrid Piethan © Astrid Piethan / Stadt Köln

Brausender Verkehrslärm, der durch die dichte Begrünung nur wenig gedämpft wird. Strahlenförmige Linien im Pflaster laufen auf den „Nagelbrunnen“ zu. Obdachlose, AlkoholikerInnen und lautstarke Jugendliche tummeln sich hier, dazwischen Eltern mit ihren schreienden Kindern und auch einige Hipster. Der Ebertplatz zeigt sich an diesem frischen Samstagnachmittag Mitte April in seiner ihm eigenen Pluralität. Eine Gruppe älterer Männer hat sich unter der Baumgruppe in der Mitte des Platzes niedergelassen. Vor ihnen stehen die braunen Kölsch-Flaschen in Reih und Glied. Unbeweglich verschmelzen sie mit der Umgebung und starren schweigend durch die PassantInnen hindurch. Diese wiederum richten den Blick starr vor sich auf den Boden oder das Smartphone.

Der Ebertplatz stand in der öffentlichen Wahrnehmung lange für eine gescheiterte Stadtarchitektur, Verwahrlosung, und Kriminalität. In der Boulevardpresse wird er immer noch gerne als „Angstraum“ betitelt. Schlecht beleuchtete Unterführungen, defekte Rolltreppen, ein abgesperrter Brunnen waren nur einige der sichtbaren Folgen jahrelanger Vernachlässigung des Platzes seitens der Stadt. Hier traf man sich eher nicht zum Kaffee oder zum Plausch unter Freunden. Dafür siedelten sich seit den 2010er Jahren in den Geschäftsräumen der Passagen Galerien und Gastronomien an, die für eine lebendige Subkultur sorgten. In den letzten Jahren hat diese positive Belebung des Platzes zusätzlich Fahrt aufgenommen: Der Brunnen wurde wieder in Betrieb genommen, die Rolltreppen zu interaktiven Kunstwerken umgestaltet (inklusive Rutsche!), zahlreiche Sitzmöglichkeiten wurden geschaffen und eine Gastronomie im Zentrum des Platzes installiert. Seit Mitte April wird der vermeintliche „Angstraum“ nun außerdem zum literarischen Open-Air-Resonanzraum. TRANSIT ist das vorletzte einer ganzen Reihe an Kunstprojekten und Veranstaltungen, die die Zwischennutzungsinitiative Unser Ebertplatz unter städtischer Koordination gemeinsam mit den ansässigen Galerien und weiteren Initiativen seit 2018 organisiert hat. In großen Lettern ziehen Texte über das am Eingang zu den Passagen angebrachte LED-Band. Die Zeichen flimmern über den Beton und verleihen der brutalistischen Architektur etwas Spielerisches, machen sie weicher.

„Versuche dich zu verirren. Erkunde eine No-go-Area. Folge einem Tier. Trau dich in eine Kneipe, vor der Menschen stehen, die nicht deine Leute sind. Höre einem Mensch zu, bei dem du deine Vorurteile spürst […]“ (Rike Hoppse)

Meryem Erkus vom Projektraum Gold + Beton erklärt, dass PassantInnen hier zum Verweilen und zur Teilhabe an einem öffentlichen Ort eingeladen werden, den die Politik schon längst aufgegeben hatte. TRANSIT ist auch deshalb in großen Teilen ein politisches Statement. Im Vorfeld zum Projekt wurde im Stadtentwicklungsausschuss diskutiert, alternativlos nur noch die ebenerdige Umbau-Variante prüfen lassen zu wollen und die Passagen am Ebertplatz zuzuschütten, was für die Kunsträume dort das Ende bedeuten würde. Ein Schlag ins Gesicht für die AkteurInnen, die sich seit Jahren für den Umbau mit Bestandsanierung und den Erhalt der Passagen als Ort für Kunst einsetzen. „Das war von uns die perfekte politische Antwort. Wenn die uns zu machen wollen, bauen wir einfach ‘ne Rutsche und ein LED-Band und schaffen ein Großstadtgefühl für die Stadt Köln“, grinst Meryem Erkus. Das Konzept scheint aufzugehen. Immer mehr Leute halten vor den Tafeln inne, konzentrieren sich auf die vorbeiziehenden Schriftzeichen, lesen mit und zeichnen auf. Über 600 Texte wurden eingereicht, berichtet Meryem Erkus. Die Auswahl sei schwergefallen, es habe teilweise ein regelrechtes Kopf-an-Kopf-Rennen und intensive Diskussionen in der achtköpfigen Jury gegeben, zu der auch sie selbst gehörte. Wichtig war ihnen ein erkennbarer Bezug zur Geschichte des Platzes oder der aktuellen Zeit, ansonsten sei das Projekt sehr niedrigschwellig angelegt gewesen. Ein anonym eingereichter Text schreit den BesucherInnen entgegen:

„IF I WAS OFFERED A PLACE IN TOWN TO SHARE SOME POETRY, THIS IS WHAT I WOULD WRITE: // BLACK LIVES MATTER / BLACK LOVE MATTERS / BLACK ART MATTERS // BLACK LIVES MATTER […]” (anonym)

Als Fanal zieht auch das Gedicht „Mein Name ist Ausländer“ der Autorin Semra Ertan über das LED-Band. Sie nahm sich 1984 in Hamburg aus Protest das Leben. Zuvor hatte Ertan, die als Jugendliche ihren Eltern aus der Türkei nach Deutschland gefolgt war, dem NDR ihre öffentliche Selbstverbrennung angekündigt. Als Grund für die Tat nannte sie die zunehmende Ausländerfeindlichkeit in Deutschland und forderte Akzeptanz und Gleichberechtigung ein. Das Gedicht von Semra Ertan sei „ein guter Text, der die Kontinuität von deutschen Rassismen ganz klar widerspiegelt. Seitdem hat sich systemisch nicht viel geändert“, bilanziert Meryem Erkus nüchtern mit Rückblick auf das vergangene Jahr. Umso wichtiger, dass TRANSIT verschiedene Biografien und Sprachen sichtbar macht und sich nicht nur auf deutschsprachige Texte konzentriert. Allein die große Anzahl an Einsendungen gibt dem pluralistischen Ansatz des Projektes Recht. Literatur ist für alle da.

„Fülle nicht deine Wasserflasche / sammle keine Vorräte und packe deine Tasche nicht / schöpfe keine Kraft nach Sonnenuntergang / um am nächsten Morgen bereit zu sein / Bleib Zuhause //“ (Harriet Grabow)

Am Ebertplatz erobert sich die Kunst nun den Raum zurück, der ihr seit Monaten verwehrt wird. Das LED-Band erlischt auch nach 21 Uhr nicht, wenn in Köln die derzeit geltende Ausgangssperre beginnt. Die Texte ziehen weiter trotzig über den kalten Beton, auch wenn sie eigentlich niemand mehr lesen darf. Sie werden zum Bindeglied zwischen Kunst und Corona, Ebertplatz und Außenwelt, Mehrheits- und Randgesellschaft. TRANSIT – einen passenderen Namen hätte es nicht geben können.

Header- und Vorschaufoto: © Astrid Piethan / Stadt Köln

TRANSIT ist ein Projekt von Unser Ebertplatz, gemeinsam mit zahlreichen VeranstalterInnen der Kölner Literaturszene: den Lesereihen Land In Sicht und Literaturklub, dem Literaturmagazins KLiteratur, dem Festival Insert Female Artist und dem Veranstaltungsformat HEIMSPIEL sowie Brunnen e.V. und freien AkteurInnen. Das Projekt wird vom Kulturamt der Stadt Köln gefördert und erhält weitere Unterstützung durch das Literaturhaus Köln und den Literaturszene Verein. Die Beratung hinsichtlich Entwicklung und Umsetzbarkeit der LED-Lichtinstallation erfolgte im Vorfeld durch Marcel Panne von Lichtfaktor.

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Hier findet ihr weitere Informationen zum Projekt auf der Website von Unser Ebertplatz