Stellwerk Magazin

Wer bin ich und wo gehöre ich hin?

Vorwort

Mithu Sanyal ist Kulturwissenschaftlerin, Journalistin und Schriftstellerin und erreichte große Aufmerksamkeit mit Sachbüchern wie „Vulva – die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts“ sowie Veröffentlichungen zu den Themen Rassismus, Feminismus, Identitätspolitik und Postkolonialismus. Mit „Identitti“ debütiert die gebürtige Düsseldorferin im literarischen Genre nun mit einem Knall: Ihr Roman vereint den gesamten Themenkomplex der Identitätspolitik in einem Buch, belehrt die LeserInnen auf unterhaltsame Weise über Postkolonialismus, Rassismus und Feminismus und erhält nicht zuletzt viel Aufmerksamkeit im öffentlichen Diskurs.

© Guido Schiefer Mithu M. Sanyal © Guido Schiefer

Die Frage nach der eigenen Identität ist Thema der Stunde. Marginalisierte Gruppen fordern ihren Platz in der Gesellschaft und ein Ende von struktureller Unterdrückung und white privilege ein. Feminismus, Rassismus und die Auswirkungen des Kolonialismus auf heutige Gesellschaftsgefüge sind spätestens seit #Metoo und der Black-Lives-Matter-Bewegung in aller Munde. Sich seine Identität selbst zu definieren ist vor allem im Geschlechts- oder Sexualkontext gängig, denn das Gender1Wenn von Gender gesprochen wird, ist damit das soziale Konstrukt des Geschlechts gemeint. Es unterscheidet sich zu dem biologischen Geschlecht, da Gender gesellschaftliche Normen, Verhaltensweisen und Rollen verkörpert und somit fluide ist. Siehe https://www.who.int/health-topics/gender#tab=tab_1 eines Menschen kann sich von dem bei der Geburt zugeschriebenen Geschlecht unterscheiden. Gilt dies auch für die kulturelle Identität? Oder handelt es sich hierbei um kulturelle Aneignung?

Mithu Sanyal arbeitet genau dieses Gedankenexperiment in ihrem Debütroman „Identitti“ durch und stellt kulturelle Identität und die Frage nach der Herkunft auf die Probe: „Das Konzept race, für das die deutsche Sprache nur die falsche Übersetzung Rasse anbietet, ist eine Fiktion, die nach wie vor massiven Einfluss auf unser ganz konkretes Leben hat: wie wir andere wahrnehmen; wie wir wahrgenommen werden; und nicht zuletzt, wie wir uns selbst wahrnehmen.“2Sanyal, Mithu: Identitti. Berlin: Hanser Verlag 2021, S. 419. Sanyal öffnet damit eine Debatte, an deren Ende die Frage steht: Wenn race nur ein gesellschaftspolitisches Konstrukt ist, kann man sich in der Folge seine kulturelle Identität aussuchen? Im Roman finden sich viele Parallelen zwischen Mithu Sanyal und ihrer Protagonistin Nivedita. Neben der Herkunft der Eltern (sowohl Sanyal als auch ihre Hauptfigur haben einen indischen Vater und eine polnische Mutter) ist vor allem eins relevant: beide sammelten Erfahrungen über kulturelle Zugehörigkeit und Ausgrenzung. Sanyal hat ein komplexes und vielschichtiges Thema in ein kurzweiliges und unterhaltsames Buch gefasst, das auch stilistisch die Diversität in der Debatte widerspiegelt. Sie stellt die Frage, was passiert, wenn man sich aktiv dazu entscheidet, seine Privilegien als weißer3Wir orientieren uns im STELLWERK an den Formulierungshilfen der Neuen deutschen MedienmacherInnen für eine differenzierte und vielfältige Berichterstattung. Oft herrscht das Missverständnis, es ginge bei dem Begriff „weiß“ um die Hautfarbe von Menschen. Tatsächlich ist damit eine gesellschaftspolitische Norm und Machtposition gemeint in einer mehrheitlich weißen Gesellschaft. Dabei müssen sich weiße Menschen nicht selbst als weiß oder privilegiert fühlen. Mensch aufzugeben und zeigt, mit welcher Macht die Welle des öffentlichen Diskurses dabei über die Involvierten hereinbrechen kann.

Nivedita ist seit sie sich erinnern kann auf der Suche nach ihrem Platz in der Gesellschaft. Als Inderin wird sie verkannt, da sie zu viele Privilegien besitzt und als Deutsche muss sie sich stets der Frage stellen, woher sie denn wirklich komme. So bloggt sie unter dem Namen „Identitti“ über gesellschaftliche Zugehörigkeitsgefühle, Rassismus oder identitätspolitische Debatten, um mit einer Portion Humor und Sarkasmus ihre Orientierungslosigkeit zu verarbeiten: „Herzlichen Glückwunsch, du bist ein Kinder-Überraschungsei: Du hast Angst, dass du von außen braun und innen weiß bist. Hab niemals Furcht, das ist alles Schokolade.“4Sanyal, Mithu: Identitti. Berlin: Hanser Verlag 2021. S. 144. Die Suche scheint jedoch ein Ende zu haben, als sie ihr erstes Seminar bei Saraswati besucht, einer indischen Professorin, die Postcolonial Studies lehrt. Bei ihr lernt sie über die Ursachen ihrer Unsicherheit und erfährt, was es bedeutet, sich endlich zugehörig zu fühlen. Niveditas Welt und das zarte Gefühl einer eigenen kulturellen Identität scheint jedoch zu zerbrechen, als herauskommt, dass Saraswati in Wirklichkeit Sara Vera Thielmann heißt und Tochter von deutschen Eltern ist. In hitzigen drei Wochen, während denen Nivedita Saraswati zu Hause aufsucht, um Antworten zu finden, entlädt sich nicht nur das schwüle Spätsommer-Wetter, sondern auch der öffentliche Unmut über Saraswatis Betrug im Netz. Dabei müssen die Professorin, aber auch ihre Studentin Nivedita, die als @Identitti mit großer Reichweite twittert und nach außen auf Saraswatis Seite zu stehen scheint, einen Shitstorm über sich ergehen lassen. Klagen über das Passing5Passing ist ein soziologisches Phänomen, bei dem eine Person nicht den ihr sozial zugeschriebenen Normen, Erwartungen und Rechten unterliegt, weil durch das äußere Erscheinungsbild die kulturelle Identität nicht erkannt wird. Siehe auch https://de.wikipedia.org/wiki/Passing, den „Identitätsbetrug“ und die kulturelle Aneignung, die Saraswati begangen haben soll, werden in emotionalen Diskussionen mit Menschen aus der Community, aber auch zwischen den beiden ausgefochten.

Indem Mithu Sanyal die klassische Prosaform aufbricht, gelingt es ihr, einen Eindruck von Vielstimmigkeit zu erzielen und zugleich eine Form für die Zersplitterung von Niveditas Identität zu finden. So ist der Roman mit Ausschnitten aus Niveditas Blog, Tweets von Personen zur Saraswati-Debatte sowie Kommentaren unter Artikeln gefüllt. Sanyal rief außerdem eine ganze Reihe realer Persönlichkeiten dazu auf, zu dem fiktiven Vorfall Saraswatis zu twittern und erzielt damit eine spannende Verschmelzung von Realität und Fiktion: Meredith Haaf, Minh Thu Tran, Fatima Khan, oder auch: „Berit Glanz @beritmiriam 1. Ich versuche die Saraswati-Debatte zu verfolgen, aber bin mittlerweile völlig verwirrt. Hat jemand einen Link zu einem guten, längeren Beitrag?“6Sanyal, Mithu: Identitti. Berlin: Hanser Verlag 2021. S. 186.
„Mir war es wichtig, dass es unterschiedliche Stimmen gibt, die unterschiedliche Geschichten erzählen. Identität ist eine gelebte Realität “, erklärt Sanyal im Interview mit dem ZDF. Sie hat dazu viele Stimmen zu Wort kommen lassen: Aussagen realer sowie fiktiver Personen zeigen, dass es auch innerhalb der identitätspolitischen Debatte Ausgrenzung, Vorurteile oder gar Opferkonkurrenz gibt. Mit „Identitti“ stellt Sanyal scheinbar mühelos das „Ringen um Selbstbestimmung und Sichtbarkeit“7Ebd., S. 419. dar, das mit einer großen Vielfalt an Meinungen einhergeht.

„Identitti“ ist Wissensvermittlung, Unterhaltung und eine Selbstfindungsreise in einem. Als LeserIn wird man bei der Lektüre in eine Welt mitgenommen, in der Anker fehlen und man selbst nicht so recht weiß, auf welche Seite man sich stellen möchte. Nivedita spiegelt dies genau wider, denn sie wird beeinflusst von ihren Mitmenschen, anstatt selbstbestimmt ihren Weg zu gehen – wirkt mitunter fragil und unsicher. Im Schnelldurchlauf werden die LeserInnen durchgerüttelt und mitten in der gesellschaftlichen Debatte aufgestellt. Was bleibt ist ein großes Fragezeichen über die Sinnhaftigkeit von kulturellen Schubladen, Privilegien und Ausgrenzung, ebenso wie der Wunsch, das gesammelte Wissen weiter zu durchdenken und von Betroffenen zu lernen.

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