Stellwerk Magazin

Das künstliche Herz

Vorwort

Kazuo Ishiguros neuer Roman „Klara und die Sonne“ ist eine wunderbare Erzählung über Liebe und menschliche Einzigartigkeit. Angesiedelt in einer möglichen nahen Zukunft, wirft das Buch die Frage auf, wie wir mit autonom denkenden Künstlichen Intelligenzen umgehen sollten und welcher moralische Stellenwert ihnen zukommen kann. Der Literaturnobelpreisträger beschäftigt sich nicht zum ersten Mal mit der Frage, was dazugehört, um als (menschliches) Subjekt Anerkennung zu finden. So spielte etwa „Alles, was wir geben mussten“ (2005) in einem Internat, in denen zum Zweck der Organspende menschliche Klone aufgezogen werden. „Klara und die Sonne“ beleuchtet diesen Komplex nun aus der Perspektive einer Künstlichen Intelligenz. An der Erkenntnis, worin genau menschliche Einzigartigkeit besteht, schrammt der Roman jedoch knapp vorbei.

Ishiguro, Kazuo: Klara und die Sonne. München: Blessing Verlag 2021. Ishiguro, Kazuo: Klara und die Sonne. Aus dem Englischen von Barbara Schaden. München: Blessing Verlag 2021. 24 Euro.

Lässt sich ein geliebter Mensch vollständig durch ein künstliches Wesen ersetzen? Kann die Beziehung zu einem Roboter einen Menschen genauso glücklich machen, wie die zu einem anderen Menschen? Klara ist genau für diesen Zweck geschaffen. Ausgestattet mit einem solarbetriebenen Körper und einer individuellen Persönlichkeit soll die Künstliche Intelligenz einem Teenager eine beste Freundin sein. Klara ist glücklich, als sie ihre Wunschbesitzerin Josie vom Laden nach Hause begleiten darf, um fortan mit ihr zu leben und ihre Vertraute zu werden. Josies Mutter jedoch hat die KI nicht nur als „KF“, als Künstliche Freundin, für ihre Tochter gekauft, sondern als möglichen Ersatz. Denn Josie ist krank und wird vielleicht sterben, noch bevor sie das Erwachsenenalter erreicht. Ihre Mutter hofft, dass Klara ihre Menschentochter bis dahin so gut imitieren kann, dass sie sie an ihrer Stelle wird lieben können. Klara ist nicht so konfiguriert, dass sie an diesem Plan etwas auszusetzen haben könnte, doch da ihr wichtigstes Anliegen Josies Wohlergehen ist, unternimmt sie Anstrengungen, um das Mädchen zu retten. Die KI weiß nicht, wie sie selbst aufgebaut ist und funktioniert, sie weiß lediglich, dass ihre „Nahrung“ von der Sonne stammt. Deshalb glaubt sie, die Maschine, an Magie: Die Sonne ist für sie ein Wesen mit Persönlichkeit, an das sie sich wenden kann, und das sicher auch Josie retten kann.

Der Roman spielt in einer nahen Zukunft, in der genetisches Enhancement und intelligente Roboter in Privatbesitz möglich und üblich sind, während Konkurrenzdruck, Arbeitszentriertheit und das Leben in Kleinfamilien aber noch immer zur Normalität gehören. Wenn sehr spät im Verlauf der Geschichte die Namen US-amerikanischer Städte fallen, ist das fast schon enttäuschend konkret. Der Blick ist jedoch nicht auf große gesellschaftliche Zusammenhänge gerichtet, sondern auf die Beziehungen der Menschen zueinander, auf Klara und ihre Wahrnehmung. Der Grundton des Romans ist weichgezeichnet und ruhig, als wäre der ganze Text in das schräg stehende Licht der untergehenden Sonne getaucht, die Klara an ihrem ersten Abend in Josies Zuhause betrachtet, denn Klara ist im Grunde ihres Wesens mit den Verhältnissen versöhnt. Wie auch in „Alles, was wir geben mussten“, versuchen Ishiguros Figuren nicht gegen die Verhältnisse aufzubegehren, oder sie gar zu überwinden.

Als Leserin lernt man mit Klara eine Erzählerin kennen, die eigene Ideen und Gedanken hat, die aber doch kein Mensch ist und darum anders funktioniert. So bleibt etwa eine eigentümliche Leerstelle dort, wo Klara, wäre sie ein Mensch, über ihre Gefühle gegenüber Josie oder den anderen Figuren sprechen würde. Ihre Loyalität zu Josie steht gar nicht zur Disposition, und ihre KI-Persönlichkeit sieht wenig eigene Bedürfnisse vor. Klara ist ein duldsames Wesen. Sie fordert nichts für sich selbst ein, ärgert sich nicht über die Menschen und auch, wenn sie eine längere Zeit in einem Abstellraum verbringen soll, beklagt sie sich nicht. Trotzdem ist sie nicht willenlos, verfolgt sie doch ihren ganz eigenen Plan zu Josies Rettung; dabei gibt sie sich die größte Mühe niemanden zu behelligen. Und auch, als sie erfährt, dass sie Josie ersetzen soll, sträubt sich nichts in ihr gegen diese Selbstaufgabe. Da sie als Erzählerin jedoch als ein eigenständiges Wesen präsentiert wird, wirkt es umso grausamer, wenn mit ihr wie mit einem Ding verfahren wird. Die Einzigartigkeit eines Menschen hingegen gilt allen als bewahrungswürdig: „Glaubst du an das menschliche Herz, Klara? Ich meine natürlich nicht einfach das Organ, sondern spreche im poetischen Sinn. Das Herz des Menschen. Glaubst du, dass es so etwas gibt? Etwas, das jedes Individuum besonders und einmalig macht?“1Ishiguro, Kazuo: Klara und die Sonne. München: Blessing Verlag 2021. S. 251.

In der neuen Zeit gilt Einzigartigkeit nur als Bündel von Eigenschaften. Wenn man den Gang, die Stimme und alle Erinnerungen einer Person kopiert, hat man im Grunde dieselbe Person vor sich. So glaubt der Schöpfer der Ersatzjosie, Mr. Capaldi, so hofft die Mutter und so fürchtet der Vater. Klara selbst schwant am Ende, dass es nicht die gesammelten Eigenschaften sind, die das Besondere einer Person ausmachen. „Mr Capaldi glaubte, es gebe nichts Besonderes in Josies Innerem, das sich nicht fortsetzen ließe. […] Aber ich glaube jetzt, er hat am falschen Ort gesucht. Es gab nämlich sehr wohl etwas sehr Besonderes, aber nicht in Josie. Es war in denen, die sie geliebt haben.“2Ebd., S. 348. Klara sagt dies lange nach ihrer Zeit mit Josie, als sie bereits ausgemustert ist und auf ihr „Verlöschen“ 3Ebd., S. 339. wartet. Der Roman präsentiert diese Erkenntnis jedoch als die eigentliche Antwort auf die Frage nach der Ersetzbarkeit. So klug er an vielen Stellen ist, verfehlt er hier allerdings den eigentlichen Punkt, und das nimmt man ihm ein bisschen übel. Das Einzigartige, Besondere an einer anderen Person ist ja, dass auch sie ein Ichbewusstsein hat. Was uns nach innen hin unterscheidbar macht, ist die Instanz, von der ich jetzt weiß: Das bin ich. Das Wissen, dass ich ich bin und nicht du. Und dieses Wissen ist nicht kopier- oder übertragbar. Im Moment des Todes einer Person ist es einfach weg. Was der Roman Josies „Herz“ nennt, ihr Bewusstsein, wird es nicht mehr geben, wenn sie tot ist – egal wie ähnlich man sie nachbaut. Liebe erfüllt gerade wegen der unendlichen Rückkopplung: Ich fühle, und du weißt, dass ich weiß, dass du weißt, dass ich weiß, … dass ich fühle. Was Josies Mutter bekäme, wäre ein Faksimile, das ein erlerntes Reiz-Reaktions-Schema bedient, aber sie wüsste, dass ihre Liebe nicht mehr in demselben Herzen ankommt, in dem sie früher angekommen ist. Nicht einmal in einem menschlichen. Und Klaras künstliches Herz wüsste sie nicht zu schätzen.

Headerfoto: Trollinho auf Unsplash

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Hier findet ihr weitere Informationen zum Buch auf der Website des Blessing Verlags