Stellwerk Magazin

Bilder eines Lebens

Vorwort

Früher war alles anders, auch man selbst. Entlang dieser Trope baut Ulrich Peltzer seinen Ende Februar im S. Fischer Verlag erschienen Roman „Das bist du“ als Montage von Erinnerungsschnipseln und Erzähltem auf. Die wilden Achtziger in der Metropole Berlin bilden die Kulisse für eine ewige Unbestimmtheit – die Frage nach der eigenen Identität. Es scheint, als musste früher nichts entschieden werden, nicht sofort jedenfalls. Morgen war auch noch ein Tag. Davor aber – und da spielt sich das Leben der Figuren Peltzers ab – lag noch eine lange Nacht der offenen Möglichkeiten.

Ulrich Peltzer "Das bist du" Peltzer, Ulrich: Das bist du. Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag 2021. 22 Euro.

West-Berlin in den frühen Achtzigerjahren. Ein namenloser Ich-Erzähler arbeitet neben seinem Studium als Filmvorführer in einem Kreuzberger Kino. Auf dem Arbeitsweg entdeckt er Graffitis, die im Kontrast miteinander kaum komischer wirken könnten: „In Rot hat jemand Caro, ich liebe dich auf eine Brückenbrüstung geschrieben, auf einer anderen steht in Weiß Freiheit für alle Gefangenen, Sterne aus Dreiecken vor und hinter den Worten.“1Peltzer, Ulrich: Das bist du. Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag 2021. S. 7. Wie in früheren Veröffentlichungen ist in Ulrich Peltzers neustem Roman „Das bist du“ die ganze Welt ein Text, den es zu lesen lohnt; eine Materialsammlung voller Widersprüche und Kontraste. Anders als im hoch gelobten „Stefan Martinez“ (1995) hat man es hier aber mit einem Erzähler zu tun, der in seiner Namenlosigkeit beinahe unstrittig eine Leerstelle aufmacht, die Peltzer nur selbst füllen kann. Nicht zuletzt entpuppt sich sein jüngster Erzähler als angehender Schriftsteller, wird Erlebtes in „Das bist du“ zum Futter für dessen Notizbuch.

Ich schreibe, also bin ich – oder besser: Ich lese, also bin ich. Das scheint die Devise des Romans. Im Bewusstseinsstrom des Erzählers treffen Erinnerungsfragmente, wissenschaftliche Zitate und Songtexte aufeinander und kreieren einen eigentümlichen, für Peltzer typischen Klang. Konzepte wie Fiktion und Realität werden suspendiert, hier haben sie keine Wirkmacht. Vergeblich versucht man in diesem Bewusstseinsstrom ohne Kapitel und Abschnitte, Fuß zu fassen. Erst am Ende schließt sich dann der Kreis, man wird zurückgeführt zum Bild nach dem ersten Schnitt: der Erzähler in der Vorführkabine. „Es ist Ende August, ich sitze am Umrolltisch, blättere durch mein Notizbuch. In meinem Rücken rattern die Maschinen, noch eine halbe Stunde bis zur nächsten Blende. Seit gestern Abend frage ich mich, ob man die ganze Geschichte schon im Kopf haben muss, bevor man zu erzählen beginnt, oder ob alles vom ersten Satz abhängt.“2Ebd., S. 286. Hier wird der Roman vollends als Gedankenspiel, als Revision einer Materialsammlung entlarvt, seine einzige Bewegung als die der Filmrolle im Projektor. Der Vorführer ist dabei der Erzähler selbst, sein Stoff das eigene Leben. Zunächst ungeordnet wirkende Absätze werden nunmehr als einzelne Frames verstanden, getrennt voneinander durch die Leere einer Zeile. Die Lücken zwischen den Bildschnipseln füllen dabei nicht selten Auszüge aus Songtexten, die eine Melodie spielen vor dem gleichmäßigen Rattern des Projektors.

Auch jenseits dieses filmischen Bewusstseinsstroms hält Peltzer an einer Poetik der Flüchtigkeit fest. Von Identitätskrisen und Selbstfindung kann bei seinen Figuren kaum die Rede sein. Sie verharren lieber in ewiger Unentschiedenheit, erleben ihr Sein und Werden als Kontingenzerfahrung und flüchten sich vor deren Interpretation so lange, bis es nicht mehr geht. Die Reflexion des Vergangenen scheut auch Peltzers Erzähler, betreibt sie immer nur bis zu dem Punkt, an dem er beruhigt und beherzt fragen kann: „Wäre ich glücklicher geworden? Als wer? Ein anderer, den ich nicht kennengelernt habe. Über den ich nichts weiß, ein Phantom.“3Ebd., S. 147. Jeder Fehltritt, jede Form von Charakterschwäche wird zum integren Bestandteil eines Lebensweges erhoben, der sich beinahe unkontrolliert in den Clubs Berlins formiert. Nacht um Nacht, Entscheidung um Entscheidung. Reue lohnt nicht, man hatte es ja ohnehin nicht besser wissen können. So autobiografisch der Erzähler wirken mag, so stilisiert ist er letztlich. Als sich windende Kunstfigur, ja, Künstlerfigur bietet er für sein Publikum weder Anschlussfähigkeit noch Angriffsfläche.

Von Revolution und Auflehnung ist im Roman die Rede, vom Kampf gegen gutbürgerliche Spießigkeit. Dabei wirkt der Erzähler als Anti-Identifikationsfigur trotzig und ironisch ahnungslos den eigenen Privilegien gegenüber. So kommt die revolutionäre Jugend bei aller Kritik am Status quo zuweilen als parasitäre Nutznießer eben jener Spießer daher: der geliebten Leonore etwa, die in ihrer Darstellung schrecklich bürgerlich wirken muss, und doch als Anker der eigenen Haltlosigkeit zu dienen hat. Die unfreiwillige Mittellosigkeit des eigenen Umfelds wird zur Folie für einen Habitus des nonkonformen Künstlers und hinterlässt so an einigen Stellen einen bitteren Nachgeschmack. Eskapismus auf dem Rücken der anderen. Es hilft dabei nicht, dass sich der Erzähler in die Rolle des Filmvorführers begibt und unantastbar hinter dem Fenster zum Kinosaal verweilt. Sämtliche Bemühungen, eigene Privilegien einzuordnen, fallen aufgrund der Form unmittelbar wirkender Beobachtungen flach: „Nur das Äußere zu schildern, ohne Psychologie, ohne Innensichten, war mein Vorsatz gewesen, als betrachtete man einen Film in Worten.“4Ebd., S. 76.

Peltzer verfolgt seinen vor langer Zeit eingeschlagenen Weg und liefert mit „Das bist du“ erneut einen Bewusstseinsroman, der für eine akademisierte Leserschaft im mittleren Alter ein literarisches Fest lang vergangener Zeiten sein muss. Für ein anderes, etwa ein junges Publikum fallen an einigen Stellen intertextuelle Verweise flach, vor allem aber fehlt eine konsequente Politisierung des Stoffs. Wenn der Erzähler fragt, „Das Schreiben als Schutzwall, gegen den die Scheiße der Welt brandet, Flauberts Elfenbeinturm. Ist es das?“5Ebd., S. 22., dann ist man geneigt zu sagen: In diesem Fall, leider ja.

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