Stellwerk Magazin

Resonanzräume des alltäglichen Wahnsinns

Vorwort

„Echos Kammern“ ist der Titel des neuesten Romans von Iris Hanika, der – obwohl bereits im Juni 2020 erschienen – jüngst durch die Auszeichnung mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2021 nochmals einige Aufmerksamkeit erhielt. Hanika, die in diesem Jahr die TransLit Poetikdozentur des Instituts für Deutsche Sprache und Literatur I der Universität zu Köln innehatte, wird für den Roman von der Jury als virtuoses Erzähltalent gelobt: „Nicht zuletzt hier weist sich die Autorin als kluge, witzige und wüste Erzählkonstrukteurin aus […].“ Sie schreibe als „eine der eigensinnigsten Stimmen der deutschen Gegenwartsdichtung, die mit brutal klarem und unverschämten Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse schauen kann.“ Die Wahlberlinerin experimentiert in „Echos Kammern“ wild mit Großstadt- und Liebestopoi. Auf 240 Seiten entspinnt sich ein ebenso skurriler wie surrealer Selbstfindungstrip zwischen Berlin und New York, Beyoncé und Borschtsch, Mythen und Mietwucher.

Iris Hanika: Echos Kammern Hanika, Iris: Echos Kammern. Graz/Wien: Literaturverlag Droschl 2020. 22 Euro.

Direkt am Anfang sei den Fans von Beyoncé jedoch dieser Zahn gezogen: Es geht weit weniger um die Sängerin als es manche Rezensent:innen auf den ersten Blick vermuten lassen. Die merkwürdige Abendveranstaltung der Reichen und Schönen in der Villa der R&B-Legende dient vielmehr als Kickoff-Event für den Wahnsinn, der da kommen wird. In auktorialer Erzählperspektive folgt man als Leser:in der Protagonistin mit dem außergewöhnlichen Namen Sophonisbe nach New York, wo diese sich eigentlich ihrem nächsten Schreibprojekt widmen möchte. Keine Lyrik mehr, nein, Prosa will die bisher recht erfolglose Dichterin nun schreiben. Wenngleich es am Stoff noch mangelt, hat sie doch bereits eine eigene Sprache erfunden und verfasst ihr Manuskript daher in einem äußerst merkwürdig anmutenden Kauderwelsch, das sie als „lengevitch“1Hanika, Iris: Echos Kammern. Graz/Wien: Literaturverlag Droschl 2020, S. 8. bezeichnet. Der Leserschaft wird dann prompt eine erste Schaffensprobe aus ihrem Manuskript geliefert: „Flughafen war geschlossen und Leute sind gefahren mit Ski in Stadt, und ich hatte Hoffnung, daß Schnee und Sturm werden bleiben bis eine Woche weiter, so daß ich werde nicht können fahren.”2Ebd., S. 7. Sätze, die jeden Grammatikfetischisten nervös machen und durch ihre Zwischenschaltung im Fließtext einen formal spannenden Kontrast zu der ansonsten sehr feinsinnigen Sprache der Erzählstimme liefern. Wenn auch das Konzept der lengevitch nicht völlig neu ist, so hat Sophonisbe die Satzstruktur so weit russisiert, dass man aus linguistischer Sicht von einer beachtlichen Leistung sprechen kann. Auch darüber hinaus dienen Russland und die Ukraine als Stichwortgeber: Die inspirationslose Dichterin schmückt ihr Manuskript demonstrativ mit polyglotten Zwischentönen, die anmuten wie aus einem Russischgrundkurs: „У меня нет смартфона“3„Ich habe kein Smartphone“, Ebd., S. 16., ist nur eines der vielen Beispiele hierfür. Ausgerechnet in New York trifft Sophonisbe dann auch auf einen jungen jüdischen Doktoranden, der fließend Russisch spricht, und an einer Dissertation über die Westukraine im 19. Jahrhundert laboriert. Weiter gediehen sind die Pläne des schönen Josh jedoch noch nicht. Das müssen sie auch nicht, denn Sophonisbe spricht dem Schönling gleich jedes nennenswerte geistige Innenleben ab. Ihr Urteil: Wer so schön ist, muss narzisstisch sein. Den smalltalkerprobten Digital Native degradiert die Dichterin zum lästigen Kerlchen, zum Spielzeug, und stellt trocken fest: „Ob er was zu sagen hätte, weiß man nicht, denn er sagt´s nicht, und die anderen fragen nicht danach, denn wer will schon wissen, was sich hinter der hübschen Larve verbirgt?“4Ebd., S. 209.

Auch sonst interessiert sich die Mittfünfzigerin herzlich wenig für ihre Mitmenschen: Als ihre Mitbewohnerin Roxana sich in Berlin Hals über Kopf in den dort hingereisten Josh verliebt, scheint Sophonisbe sich nur an dem Naturschauspiel zu ergötzen: „Josh schaute wieder hilfesuchend Sophonisbe an, die ihm weiterhin, selbst wenn sie es gekonnt hätte, nicht hätte helfen wollen, weil es sie so begeisterte, einmal miterleben zu dürfen, wie bei jemand anderem der Liebeswahn ausbrach.“5Ebd., S. 173. Anschließend möchte sie die Qualen der ihr erstaunlich ähnlichen Roxana dichterisch nutzbar machen. Generell scheint nur das Leid anderer das kreative Vakuum der Protagonistin kurzzeitig zu befüllen. Empathielos, egozentrisch und eigennützig. Ist etwa Sophonisbe der eigentliche Narziss in dieser Erzählung?

Hanika treibt das Spiel mit Ambivalenzen in „Echos Kammern“ zu wahrer Meisterschaft. Bereits zu Beginn der Handlung wird gewarnt: „Was wir hier dichten, sind keine Ritter-, Räuber- und Gespenstergeschichten, wir werden bestimmt kein System errichten, denn wir wollen nur die Wörter schichten, also so die Zeilen mit zierlichen Buchstaben ausfüllen.“6Ebd., S. 5. Schreiben um des Schreibens willen scheint über weite Strecken Hanikas ebenso kunstvolle wie unterhaltsame Schreibprogrammatik zu sein. Das „Wörter schichten“7Ebd. beherrscht Hanika tatsächlich meisterhaft. Virtuos ästhetisiert sie Ereignisse wie einen Autounfall, indem sie diesen plötzlich in Form von antiken Hexametern in die Erzählung einflicht. Der Roman verweigert jedoch in seiner Gesamtschau jede Kontinuität, jede eindeutige Auslegung und wird zur literarischen Dunkelkammer, in der immer wieder altbekannte Motive widerhallen, die jedoch nicht greifbar werden. Schon glaubt man in dem hochkomplexen Figurengeflecht eine feministische Aktualisierung des Narziss-Mythos’ zu erkennen: Ausnahmsweise wird weibliches Begehren auf männliche Passivität projiziert. Doch sogleich wieder Ratlosigkeit: Wer ist diese liebestolle Roxana eigentlich? Wieso übernimmt sie plötzlich Sophonisbes lengevitch? Lose Fäden und schizophrene Anwandlungen, die eine eindeutige Lesart verweigern.

Gentrifizierung, Digitalisierung und Nazideutschland sind die historischen Kammern, durch die sich Hanika ebenso scharfsinnig wie wortgewandt bewegt, repräsentiert in überteuerten Butzen, Speise- und Abstellkammern sowie deutlichen Anspielungen auf Gaskammern. Mit nonchalanter Leichtigkeit entlarvt Hanika den Mainstream der „fiktiven Subjektivitäten“8Ebd., S. 108. im „grobgestrickten Firlefanz“9Ebd., S. 111. und treibt dabei dem einen oder anderen die Schamesröte der Selbsterkenntnis ins Gesicht. Formal offenbart sich „Echos Kammern“ als wüste Neuauflage unterschiedlichster Erzähltechniken, von der Zyklusstruktur des mittelalterlichen Heldenromans über moderne Montagetechniken bis hin zum polyglotten stream of consciousness. Intertextuelle Verweise werden prominent ausgestellt und den Leser:innen so jegliche Chance genommen, selbst mit Allgemeinwissen zu glänzen. Stattdessen schlüsselt der Roman anfallende Referenzen umgehend auf: Startet die Handlung in Manhattan, folgt sofort die Nennung John Dos Passos, der seinerzeit die Vorlage für den New-York-Roman schlechthin lieferte. Heißt eine Figur Roxana, wird sofort The Police erwähnt. Es scheint nicht in Hanikas Interesse zu liegen, die Allgemeinbildung ihrer Leserschaft mit hintergründigen Andeutungen auf die Probe zu stellen. Vielmehr mokiert der Text sich beinahe über akademisierte Schreibformen. So zieht Hanika bildungsbürgerliche Autorschaftsmodelle gekonnt ins Lächerliche, indem sie rhetorische Figuren ganz bewusst ausstellt: „Gott also, leicht verschlafen, trat aus seiner Maschine heraus […]“10Ebd., S. 123.; harte Diegesebrüche inklusive, die immer wieder aus dem Text hinauskatapultieren, und die akademisierte Leserschaft mit einem Schmunzeln an ihren Platz verweisen. Verspricht der Roman zu Beginn, „pfeilgerade“11Ebd., S. 7. der Bahn der Ereignisse folgen zu wollen, dann nur, um dies umgehend zu konterkarieren. Stattdessen folgen immer wieder thematische Abschweifungen sowie wilde Perspektiv- und Schauplatzwechsel, gespickt von messerscharfer Gesellschaftskritik. Wer also gerne geradlinig einem kohärenten Handlungsverlauf folgen möchte, den treibt „Echos Kammern“ so zuverlässig in den Wahnsinn wie Josh seine Roxana. Lässt man sich jedoch vorbehaltlos durch die immer neuen Assoziationsräume treiben, offenbart sich ein ebenso facettenreiches wie kluges Werk, dessen charmanter Scharfsinn trotz stellenweise entnervenden Irrsinns zu unterhalten weiß.

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