Stellwerk Magazin

Schreiben gegen den Kanon

Vorwort

Was der Kanon bisher für den Lehrplan ist, könnte in Zukunft die „Neue Schule“ sein: Auf 304 Seiten beinhaltet der im November im Claassen-Verlag erschienene Band die Kurzgeschichten vierzehn junger Autor:innen. Vertreten sind neben dem Herausgeber Steinkopf selbst unter anderem Deniz Utlu, Dana von Suffrin und Julia Weber. Die „Neue Schule“ ist eine Materialsammlung, die zur Lektüre jenseits des Kanons anregt – auch in der Schule.

Leander Steinkopf (Hg.): Neue Schule. Prosa für die Nächste Generation Steinkopf, Leander (Hg.): Neue Schule. Prosa für die nächste Generation. Berlin: Claassen-Verlag 2021

Wenn die Bezeichnung „Alte Schule“ für gutes Benehmen steht, dann müsste im Umkehrschluss die „Neue Schule“ ungezähmt und wild sein. Leander Steinkopfs erster Sammelband enttäuscht hier nicht und wartet gleich mit einer ganzen Reihe wilder Gegensätze auf: Da ist die lyrisch anmutende Prosa, mit der Julia Weber über Verliebtheit schreibt, die essayistische Selbst- und Medienreflexion Roman Ehrlichs und der analytische Blick in Robert Prossers Erzählung über das Erzählen selbst. Die Texte handeln von Flucht und Gewalt, von Sexualität und Freundschaft, vom Leben und vom Tod. Einzig einendes Moment: die Jugend. Sie ist Grundlage für das Figurenpersonal, wird reflektiert, erinnert, verdrängt. Sie ist auch die einzige Themenvorgabe des Herausgebers an die Autor:innen gewesen. Ihm ging es aber nicht darum, „Jugendliteratur zu schreiben, sondern erwachsene Literatur“, so Steinkopf, und zwar in ihrer ganzen Bandbreite. Einige der Autor:innen kannte er persönlich, andere wurden ihm über Ecken empfohlen. Alle seien sie von der Sache begeistert gewesen.

Die Sache, das ist das Schreiben für eine weitere Generation, die nach der obligatorischen Schullektüre von Goethe und Lessing den eigenen Zugang zur Gegenwartsliteratur noch finden muss. Dafür steht die „Neue Schule“ vor allem. Sie bietet Literatur, die sich dem angestaubten Image kanonischer Wälzer entzieht, und in den Köpfen Heranwachsender neue Begeisterung fürs Lesen wecken kann. Dass das möglich ist, wurde Steinkopf 2018 im Rahmen des Kranichsteiner Literaturförderpreises klar. Eingeladen für sein Debüt „Stadt der Feen und Wünsche“, konnte er die Schüler:innenjury mit einem eigens für sie verfassten Text überzeugen. Die hielt dabei nicht hinterm Berg. Steinkopf erinnert sich eindrücklich an ihre Bereitschaft, ohne Scheu offen und kritisch an Text und Autor heranzutreten – ganz anders als im Schulunterricht. Entsprechend nahbar kommt jetzt die „Neue Schule“ daher: Ohne Lektüreschlüssel und Didaxe, dafür mit einer großen Portion Identifikationspotenzial und Offenheit

Poetologie des Unprätentiösen

Dass die Erzählungen in vielerlei Hinsicht um das eigene Schreiben kursieren, ist dabei genauso entscheidend, wie das beinahe durchweg starke ‚Ich‘ einer jungen Autor:innengeneration. Besonders profitiert der Band aber von seiner expliziten Verankerung im Hier und Jetzt. So untermalt Patricia Hempel Erfahrungen gewaltvoller Sexualität mit dem Klang von Bibi Blocksberg Kassetten: „Katjas Hüftknochen bohrte sich zwischen meine Beine. Karla Kolumna hörte nicht auf zu reden.“ 1Steinkopf, Leander (Hg.): Neue Schule. Prosa für die nächste Generation. Berlin: Claassen-Verlag 2021, S. 46. Während Roman Ehrlichs Erzähler sich an seiner Beziehung zur Kultserie „Roseanne“ abarbeitet2Ebd., S. 105.. Die „Neue Schule“ lebt von (Pop-)Kultur, ist aktuell und kommt ohne große Umschweife und apodiktischen Habitus daher. Für Steinkopf ist das der große Mehrwert gegenüber kanonischer Literatur: „Hier sollte es darum gehen, wie Literatur im Leben weiterhelfen kann. Und das gelingt, glaube ich, eher auf eine unprätentiöse Art.“

Gut, dass er mit seiner Erzählung „Die Zeit im Café Blau“ gleich das entsprechende Modell mitliefert. Der namenlose Protagonist entwirft hier stellvertretend für Steinkopf den poetologischen Rahmen für die „Neue Schule“. Zentrum seiner Überlegungen ist das Café Blau – der Ort, an dem der Kunst das Weltfremde genommen wird: „Die Künstler hier lasen keine Theorie und wollten nicht nach Berlin, sie hatten keinen Kontakt zu Galeristen und Kuratoren, und wenn sie Kunst meinten, sagten sie ‚Kunscht‘, denn sie sprachen den hiesigen Dialekt.“3Ebd., S. 91. Das ist die „Neue Schule“ in kondensierter Form. Das Schreiben ist hier immer auch ein Schreiben gegen das System. Entsprechend antiautoritär verzichtet Steinkopf auf ein Vorwort und lässt „die Geschichten für sich und alle auf einer Ebene stehen“.

Gestalterische Tücken

Mit dieser Offenheit ist der Band einigen Stolpersteinen ausgesetzt. Ohne einleitende Worte bleiben die Beiträge scheinbar zusammenhanglos nebeneinanderstehen. Sollte die „Neue Schule“ am Ende gar nicht als Bewegung gemeint sein? Shida Bazyars „Auf wen die Aubergine zeigt“ kommt an erster Stelle noch mit langen Sequenzen einer unschuldig jugendlichen Sprache daher und gibt damit gewissermaßen den Ton an: „Und der Direktor würde dann so gucken wie: Was geht ab, ist doch alles nicht so schlimm; meine Mutter würde so gucken wie: Was geht ab, dieser Junge geht gefälligst sofort in den Knast, und Zara würde so gucken wie: Alter, seit wann bist du eine Petze. Und hätte als Einzige recht.“4Ebd., S. 13. Das weckt Erwartungen, die vom rauen Ton in Deniz Utlus „Die Crosshill-Jungs“ noch übertroffen werden, aber z.B. in starkem Kontrast zur distanzierten Erzählhaltung eines Jan Wilm stehen.

Wenn die „Alte Schule“ für das Überlieferte steht, dann ist die „Neue Schule“ so etwas wie der Büchertisch mit Neuerscheinungen im vorderen Bereich der Buchhandlung. Anspruchsvoll und kuratiert, sicher. Aber genauso unzusammenhängend. Man würde sich fast wünschen, dass Steinkopf bei aller Zurückhaltung dann doch in Erscheinung treten und in jugendlicher Rotzigkeit offenlegen würde, wie sehr sich seine Anthologie als Gegenentwurf zum Bestehenden begreifen lässt: „Während meines Studiums habe ich einen Song geschrieben mit dem Refrain ‚Die Kunst ist frei / Doch ich auch / Fickt euch selber‘.“

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