Stellwerk Magazin

Dem Boden zuhören

Vorwort

Der Boden hat eine eigene Sprache. Das wird den Gästen der Kölner Tanzfaktur beim Besuch der Theater-Performance „Niemandes Boden – O chão de ninguém“ deutlich, als Gabriel Carneiro zwei Mikrofone an Kabeln durch einen Haufen Erde zieht. Die Geräusche, die dabei entstehen, klingen wie kleine Erdrutsche, wie Steine, die aneinander gerieben werden, oder Schutt, der einen Hang entlangrutscht. Es ist eine eigene Sprache, und wie Carneiro während des Stücks sagt: „Wenn der Boden spricht, ist es gut zuzuhören.“

Besetzung:

Performance und Regie: Gabriel Carneiro Szenischer Raum & Ausstattung: Margareta Bartelmeß, Mara Zechendorff Produktionsleitung und Dramaturgie: Marie Hewelt Mentoring und Dramaturgie: Bianca Mendonça Komposition und musikalische Begleitung: Max Sales

Die installative Performance, die Anfang des Jahres schon im Theater im Ballsaal in Bonn und im FFT Düsseldorf aufgeführt wurde, versucht etwas Wahnwitziges: Den Boden zum Protagonisten zu machen. Um sprechen zu können braucht er ein Medium, ein ganzes Team an Künstler:innen: Zwei Bühnenbildnerinnen, eine Dramaturgin, einen Musiker, Licht- und Tontechniker:innen. Dieses Team kreist um Gabriel Carneiro, einem Schauspieler und Regisseur aus Minas Gerais, Brasilien, der für den Masterstudiengang Szenische Forschung an der Ruhr-Universität nach Bochum gezogen ist. Es hat ihn überrascht und schockiert festzustellen, wie viele Parallelen er zwischen beiden Orten beobachten konnte. Minas Gerais und das Ruhrgebiet sind stark vom Bergbau geprägt, das Verhältnis von Mensch und Boden ist Teil beider Kulturen. Dieses Verhältnis ist aber nicht unbelastet geblieben, denn der Bergbau hat Opfer gefordert. 2019 brach ein Damm in der Nähe von Brumadinho wegen Nachlässigkeiten des Unternehmens Vale, das die Miene betrieb. Der TÜV-Süd hatte dem Damm nur wenige Monate zuvor Standfestigkeit zertifiziert. Die auf den Bruch folgende Schlammlawine tötete 270 Menschen und zerstörte das Ökosystem des Flusses Paraopeba. Carneiros Performance greift diese Katastrophe auf, ohne den Boden auf Tragödien zu reduzieren. Im Gegenteil bemüht sich das Team darum, ein „Gegenstück zur Katastrophe“ zu schaffen, wie Bühnenbildnerin Margareta Bartelmeß es ausdrückt.

Für dieses ambitionierte Vorhaben holt Carneiro die Zuschauer:innen ab, der Regisseur begrüßt die Gäste persönlich. Für die Performance sollten sie einen Behälter mit Erde mitbringen und einige sind dieser Bitte gefolgt. Er nimmt die Behälter entgegen, verteilt Infomaterial und bittet die Gäste, mit eingeschalteten Handytaschenlampen einen Gang hinter der Bühne zu betreten. In dem dunklen Tunnel finden Besucher:innen Papierschnitzel mit Informationen über Bergbau und Fotos von den Auswirkungen des Dammbruchs in Brumadinho, die mit Büroklammern befestigt an Fäden hängen. An einer Wäscheleine über dem Gang hängen einige Jeans-Hosen.

Das Stück kann beginnen, sobald alle einmal hindurchgelaufen sind. Auf der Bühne wartet ein großer Haufen Erde, der multimedial zum Leben erweckt wird: Mit Carneiros Schauspiel, Videos, Hintergrundgeräuschen der bröckelnden Erde und gelegentlichen Gitarrensounds zur Untermalung der Höhepunkte. Eine Teamleistung, die mit ihrer Vielschichtigkeit eine zentrale Eigenschaft des Bodens zu greifen versucht. Denn auch er besteht aus verschiedenen Schichten. Wie Gabriel Carneiro im Gespräch erklärt, wollten sie diese Vielschichtigkeit dramaturgisch umsetzen. Dafür griffen sie zu Elementen, die bei der Überlagerung einen besonderen Effekt verursachen, also Ton, Video, Objekte, Licht, Projektionen, Bewegung, Choreographie und Text. Dass diese Elemente alle miteinander funktionieren ist dabei keine Selbstverständlichkeit, denn das Team arbeitet in dieser Konstellation zum ersten Mal zusammen. „Ich habe erstmal ein Konzept geschrieben und mich auf die Suche gemacht nach wundervollen Menschen, die mitmachen und diesen Versuch verwirklichen.“, erzählt Carneiro. Er und Dramaturgin wie Produktionsleiterin Marie Hewelt kennen sich aus dem Studium. Bühnenbildnerin Mara Zechendorff kam über gemeinsame Bekannte hinzu, die zweite Bühnenbildnerin Margareta Bartelmeß ist durch einen Newsletter auf das Team aufmerksam geworden. In Gänze kennengelernt haben sie sich dann erst einmal über Zoom, denn auch die Produktion war durch Corona eingeschränkt. Trotz dieser Hürden konnten sie sich mit der Zeit einspielen. Das Team beschreibt die Proben als experimentell, eine Zusammenführung verschiedener Ideen. Die Bühnenbildnerinnen haben schon viel zu dem Thema gearbeitet. Mara Zechendorff führte in ihrer Bachelorarbeit das Ruhrgebiet, Zechenkultur und Theatervorplätze zusammen und stieß so auf das Prinzregenttheater in Bochum, dessen Räumlichkeiten früher zu einer Zeche gehörten. Margareta Bartelmeßʾ Vorstudium Geophysik lieferte ebenfalls wertvollen Input.

Niemandes Boden © Christian Herrmann Gabriel Carneiro in „Niemandes Boden – O chão de ninguém“ © Christian Herrmann

Mit Proben vor Ort konnten sie im Oktober 2021 beginnen, erst in Bochum, dann für die Hauptproben in Düsseldorf. Hauptproben, bei denen in erster Linie mit einem großen Erdhaufen interagiert wird. Wie das überhaupt gehe? „Mit viel Folie und viel Saugen“, erklärt Mara Zechendorff, und ergänzt, dass sie mit einer geringeren Menge Erde begonnen haben, um sie im Hinblick auf die Generalprobe bis zur gewünschten Menge anwachsen zu lassen. Während der Performance landet auch die von den Gästen mitgebrachte Erde im Erdhaufen, wie bei einer rituellen Geste. Dann verteilt Carneiro sie mit den Händen über den Bühnenboden. Barfuß und in kurzen Hosen kniet er, hockt sich hin, oder setzt sich neben die Erde. Auf der Leinwand hinter ihm sieht man ihn von oben, wie er die Erde als dünne Schicht über den Boden verteilt, als würde er ein Gemälde anfertigen. Währenddessen erzählt er: „Der Boden ist ein offenes Archiv, deshalb spricht er so langsam. Wenn er ganz ist, bewegt er sich ruhig und spricht langsam.“ Als wäre der Boden ein alter Freund, den man nicht mehr richtig versteht, den man aber wieder verstehen lernen kann. Plötzlich werden die Bewegungen aggressiver. Carneiro stemmt sich gegen den Boden, versucht mit den Armen so viel Erde wie möglich aufzuheben, indem er sie an seine Brust drückt. „Aber wenn eine Schicht fehlt: Störung, Fieber, Vibration. Geschwindigkeit ist die Sprache des Bodens.“ Das Gemälde wird wieder zerstört. Wo eine dünne Erdschicht war, sind nur noch verteilte Haufen.

Diese Drastik speist sich nicht nur aus den Katastrophen der letzten Jahre, sondern auch aus seinen Inspirationsquellen, die er dem südamerikanischen Perspektivismus entnimmt. In dieser Philosophie ist es ein zentraler Gedanke, die Perspektive von Tieren, Pflanzen oder Dingen einzunehmen. Der Blick aus Sicht der Erde soll dabei helfen, angesichts von Umweltkatastrophen unser Verhältnis zum Boden neu zu denken. Carneiro nennt unter anderem Ailton Krenak als Inspirationsquelle, ein Schriftsteller und indigener Aktivist aus der Ethnie der Krenak. Dieser beschreibt in seinem Buch „Ideen, um das Ende der Welt zu vertagen“ den Fluss Rio Doce als eine Person, einen Großvater der Krenak, keine Ressource, die man sich aneignen darf. Der Dammbruch von Bento Rodrigues, der den Fluss 2015 mit einer giftigen Schicht bedeckte, habe die Krenak zu Waisen gemacht, den Rio Doce in ein Koma versetzt. „Es ist jetzt anderthalb Jahre her, dass dieses Verbrechen – man kann es nicht einen Unfall nennen – unsere Leben auf so radikale Weise getroffen hat.“, schreibt er in seinem Buch. „Es hat uns in einen Zustand gebracht, in dem die Welt untergegangen ist.“1Krenak, Ailton: Ideias para adiar o fim do mundo. São Paulo 2019, S. 15. Übersetzung ins Deutsche von Rafael Greboggy Er beobachtet eine starke Distanz des Menschen zu seiner ursprünglichen Heimat. Das habe aber nicht nur Indigene zu Waisen gemacht. Ebenso treffe die Zerstörung der Natur auch den Rest der Menschheit. In seinem Buch erzählt er, er sei 2018 – dem Wahljahr Bolsonaros – in Brasilien gefragt worden, wie die Indigenen sich wohl angesichts all dieser Dinge schlagen werden. Er antwortete: „Die Indigenen kämpfen jetzt seit fünfhundert Jahren, ich bin eher besorgt über die Weißen. Wie sollen sie aus der Nummer wieder rauskommen?“2Ebd.

Nach der Vorstellung sitzen Gabriel Carneiro, Margareta Bartelmeß und Mara Zechendorff zusammen auf Sofas um einen kleinen Tisch, Carneiros Hände sind immer noch braun von der Erde. Auf die Frage hin, ob das Stück politisch sei, erklärt er, es sei eine persönliche Auseinandersetzung mit dem Thema Bergbau. „Wenn das Thema Bergbau politisch ist, ist das Stück politisch.“ Gleichzeitig geht es dem Team nicht darum, den moralischen Zeigefinger zu erheben, erklärt Zechendorff. Es geht ihnen darum eine Geschichte zu erzählen, da auch unser Verhältnis zum Boden sich ändern kann, wenn sich die Geschichten über ihn ändern.

Das Stück führt vor, wie es gehen kann. Es führt vor, wie der Boden auf uns reagiert, und spricht ihm damit Handlungsmacht zu. Das Paradoxe daran ist – und das merkt auch Gabriel Carneiro im Interview an –, dass der Mensch immer noch im Zentrum der Performance stehen muss, wenn man den Boden sprechen lassen will. Ebenfalls herausfordernd ist, dass die Philosophie hinter dem Stück sehr abstrakt bleibt. Das wird aufgefangen, indem die Katastrophe von Brumadinho als Kontext herangezogen wird. So gewinnt die Performance eine starke Emotionalität, die auch den hohen Abstraktionsgrad erträglich macht. Man merkt der Arbeit an, dass sie aus vielen Gedanken geformt wurde, und auch wenn sicher der eine oder andere zu subtil bleibt, so gelingt „Niemandes Boden – O chão de ninguém“ dennoch ein gewaltiges Kunststück: Nämlich trotz der Hinweise auf dessen zerstörerische Macht ein zärtliches Verhältnis zum Boden ins Spiel zu bringen. Und vielleicht ist das ein erster Schritt auf dem Weg, ihn nicht als unseren Besitz zu betrachten. Denn er war schon vor uns hier und wird uns auch überdauern. Wie kann er uns also gehören?

Header- und Vorschaufoto: © Christian Herrmann