Stellwerk Magazin

Lost in Deutschland

Vorwort

Unter dem Titel „Weit weg. Nach Deutschland.“ war im Rahmen der lit.COLOGNE 2022 eine Heimaterkundung der besonderen Art zu erleben. Marleen Lohse und Rufus Beck lasen Auszüge aus Roger Willemsen „Deutschlandreise“ von 2002 sowie aktuelle Texte von TuPpS-Studierenden, die als literarische Auseinandersetzungen mit Willemsens Buch entstanden sind. Das Ergebnis: ein heiterer, aber auch gedankenreicher Abend.

Texte & Konzept: Studierende des Masterstudiengangs Theorien und Praktiken professionellen Schreibens: Miriam Becker, Joana Brandstetter, Friederieke Butzheinen, Michelle Clermont, Jana Dasenbrock, Antonia Dinslaken, Rafael Greboggy, Lena Großhauser, Leonie Herz, Felix Jüstel, Judith Marie Riemann, Mara Schmitz, Elisa Schüler, Lina Thiede, Hanna Wunsch

Am Ehrenfeldgürtel entlang füllt sich die Schlange an Gästen, die geduldig mit ihren Eintrittskarten in der Hand warten, bemüht sich diese vom starken Wind an diesem frühen Samstagabend nicht entreißen zu lassen. Zügig geht es voran und immer mehr Zuschauer:innen betreten die Balloni Hallen, wo sie ein heiterer, aber auch gedankenreicher Abend der lit.COLOGNE 2022 erwartet. Heimatgefühl, Wanderschaft und die stetig fortschreitende Digitalisierung und Beschleunigung des Alltags stehen auf dem Programm.

Während vereinzelnd noch Sitzplätze aufgesucht werden, leitet die Moderatorin in das Thema des heutigen Abends ein – „Weit weg. Nach Deutschland.“ Anschließend referieren in harmonischem Einklang Rufus Beck und Marleen Lohse abwechselnd Auszüge aus Roger Willemsens „Deutschlandreise“ von 2002 sowie ausgewählte Texte von Studierenden des Masterstudiengangs Theorien und Praktiken professionellen Schreibens (TuPpS) der Uni Köln, die im Herbst letzten Jahres in Form literarischer Auseinandersetzungen mit Willemsens Buch entstanden sind. Die Exkursion führt von Schöneberg bis zum Potsdamer Platz, weiter durch Ostdeutschland nach Leipzig, in die Hansestadt Lichtenhagen, auf ländliche Nester, ins Ruhrgebiet bis nach Rügen in die Natur. Statt stumpfen Klischees über typisch deutsche Gepflogenheiten erfreuen sich die Zuschauenden am wachen Blick von Roger Willemsen und den kreativen Gedanken der jungen Schriftsteller:innen zu den Eigenarten unserer Zeit. Abgerundet wird der Abend mit amüsanten Anekdoten der Moderatorin Marie-Christine Knop, die das Publikum in ihren Überleitungen nicht nur bestens unterhält, sondern auch zum Lachen bringt. Sie gibt den Startschuss mit den Worten: „Wir wollen Sie mitnehmen auf die Suche nach diesem Deutschland, und wir lassen uns durch Großstädte treiben, gehen aufs Land, gehen natürlich in die Tiefen des Internets, oder wie Bushido sagen würde ‚Von der Skyline zum Bordstein‘.“

Hassliebe deine Stadt

Passend zum Veranstaltungsort schärft Michelle Clermont den Blick für das Kleine und Unwesentliche der sich stetig weiter anfüllenden Stadt Köln. Im Hype um überlaufene Cafés und dem Ausdruck von nachhaltigem und verantwortungsbewusstem Verhalten, das sich im endlosen Schlange-Stehen vor Second-Hand-Läden äußert, fängt sie den aktuellen Spirit der Stadt ein. Während „Kein Veedel für Rassismus“-Fahnen an den Fenstern wehen, von denen sich einige um ihre Halterung geschlungen haben, gilt es unkontrolliert rasenden Lastenrädern gekonnt auszuweichen. Mit einer Mischung aus sarkastischem Witz und liebevollen Beobachtungen trifft sie die Hassliebe, mit der sich vermutlich die meisten Großstädter:inner identifizieren können, in ihrem Kern.

Zwischen Werbeplakaten und Digitalisierung at it’s worst

Jenseits der Lastenräder in Köln, die im Straßenverkehr die Herrschaft an sich reißen, nimmt sich Leonie Herz die Lieferdienste Gorillas und Flink als gedankliches Sprungbrett für ihre Kapitalismuskritik. In einer Mischung aus Anti-Haltung wegen der Sinnlosigkeit des Geschäftsmodells einerseits, und der Angst, der süßen Versuchung selbst nicht widerstehen zu können, während man den viel zu schweren Rucksack mit dem Einkauf nach Hause schleppt, andererseits, stellt sie mit ihrem Text die Frage, ob die Dienste vielleicht doch das Schnell-nochmal-zum-Kiosk-Laufen des Jahres 2022 seien.

So ist es bei Willemsen im Jahre 2002 kein Plakat von Flink, das ihn zum kapitalismuskritischen Philosophieren veranlasst, sondern eines der Aktion freundlicher Bahnhof am Berliner Bahnhof Zoo, dessen Aufschrift „Bunte Geschäfte rein, dunkle Gestalten raus“ sinnbildlich für ein damals schon wirkmächtiges konsum- und profitorientierte Denken gelesen werden kann. Der Aussage des Plakates widerstrebend bekräftigt er, dass das Elend des unglücklichen Hängenbleibens am Bahnhof genauso dazugehöre wie die Hoffnung auf etwas Neues. Was wäre denn die Bahnhofsmission ohne den Bahnhof?

© Ast/Juergens, lit.COLOGNE Rufus Beck und Marleen Lohse © Ast/Juergens, lit.COLOGNE

Mit mehr oder weniger interaktiveren Kommunikationsformen befassen sich die TuPps-Studierenden Antonia Dinslaken und Friederieke Butzheinen in ihren Texten. Verpackt in ein holpriges Gespräch auf einem unbefriedigenden Tinder-Date mit einem neoliberalen bis rechts-konservativen Ärztesohn, äußert sich die geteilte Meinung zu der App, die zu hastigem Swipen und dem willkürlichen Sammeln von neuen Matches verleitet. „Quantität ist nicht gleich Qualität“ kommt einem dabei unkontrolliert in den Sinn. Eine weitere Widersprüchlichkeit findet sich in Callcenter-Anrufen, die – wie der Text verdeutlicht – alles andere als den Auftrag von beschleunigter Kommunikation erfüllen. Hapert es bei dem einen Anruf an der schlechten Verbindung, so scheitert die telefonische Terminvereinbarung woanders schließlich am uneinsichtigen Kunden, der sich als Digitalisierungsverweigerer entpuppt. An beiden Auswürfen des digitalen Zeitalters zeigt sich, dass die Dysfunktion im System selbst liegt, denn beschleunigt wird hier offenbar gar nichts.

„Ich ficke meine Depression in den Arsch!“

Sowohl der Auszug von Willemsen 2002 als auch der aktuelle Text von Jana Dasenbrock finden eine Erklärung für Extremismus im Ausdruck des Sentimentalen. Bei Willemsen ist es ein Autobahnkreuz, das er als Symbol für Fortschritt und die gleichzeitige Verdrängung von etwas Altem sieht. Das Festmachen von Heimatgefühl an einen bestimmten Ort sei nicht selten mit Extremismus in Verbindung zu bringen, wohingegen Nomaden weniger zu Fundamentalismus neigen würden. Somit stellt er sich die Frage, ob die Lösung im immerwährenden Wandern zu finden ist. Ein darauf antwortendes Gedankenspiel gibt Jana Dasenbrock mit ihrem Protagonisten Martin, dessen unergiebige Suche nach einer passenden Nische in der Arbeitswelt in eine bemitleidenswerte Selbstfindungsreise ausufert. Zwischen den Möglichkeiten als Ergotherapeut, Gärtner oder Informatiker zu arbeiten, findet er nicht das, was er vergeblich sucht, und verliert sich schließlich völlig im Zustand des „Lost-Seins“, der als Symptom dieser Generation gelesen werden kann. Letztendlich verschlägt es ihn nach Ostdeutschland – Leipzig –, wo seine Ziellosigkeit in Einsamkeit, Extremismus-Interessen und Penny-Dosenbier ihren depressiven Ausgang findet.

Eine andere Umgangsform mit dem Thema Depression äußert sich in der literarischen Auflehnung von Judith Marie Riemann. Ihre Protagonistin beobachtet das Treiben in einem mittelmäßig belebten Café, wobei sie jedoch immer wieder von dem Ausbruch: „Ich ficke meine Depression in den Arsch!“ unterbrochen wird, den Rufus Beck ebenso inbrünstig vorträgt, wie er sich liest. Auf humoristische Weise zeigt sie Facetten dieser Krankheit auf, die eben auch von Wut und Frustration geprägt sein kann, und leistet damit gleichzeitig einen Beitrag zur Aufklärung.

Konträr zu der nachdenklich werdenden Stimmung im Saal, lockert die Moderatorin mit der Frage an die beiden Lesenden auf, was denn für sie das Waschbecken, als Metapher für die Heimat, sei. Der gebürtige Heidelberger Beck antwortet darauf sehr entschlossen: Bayern. „Man sagt übrigens in Bayern: Heimat ist da, wo das Gefühl ist. Also das ist eigentlich ganz schön: Da wo die Liebe vielleicht ist, da wo man sich wohlfühlt, das ist die Heimat. Also muss es nicht die Heimat sein, in die man hineingeboren wird.“

Für oder gegen die Selbstverwirklichung?

Von der Heimat geht es bei Willemsen im Jahr 2002 wieder auf Wanderschaft, genauer ins Ruhrgebiet. Dort treffen unmaskiert die Vertreter:innen ganz unterschiedlicher Generationen im Bus aufeinander und sind sich trotz Altersunterschied sehr einig über den fehlenden Sinn in ihrem Leben. Neben Aszendenten, Feng Shui und der Wiedergeburt sei es vor allem die Berufswelt, die Sinnangebote bereitstellt. Motivierende Slogans der Werbeindustrie versprechen die Erfüllung in der Arbeit. Dass diese Versprechen nur allzu häufig hohl bleiben, stellt Willemsen deutlich heraus. Doch werden bei Willemsen im Bus die Liebe und Träume aufgrund ihrer individuellen Verluste verschmäht, ist doch auch ganz klar, dass es ohne sie ebenso sinnlos wäre.

Eine ähnliche Zerrissenheit zeigt 2022 Joana Brandstetter in ihrem Text auf. Die Gefühlswelt während der Pandemie findet ihr Ventil zwischen den viel zu perfekt aussehenden Elevator Boys auf TikTok, die kurzfristig die Einsamkeit bekämpfen, aber gleichzeitig auch eine Selbstkrise auslösen. Die Wut landet in Tweets, Threads und Hashtags auf Twitter, wo erst einmal herausgefunden werden muss, wer als nächstes gecancelt wird. Woraufhin dann dem Eifer auf Instagram nachgegangen wird, „that girl“ zu werden, das immer gleich gut aussieht, und ihr Leben voll im Griff zu haben scheint.

Ob nun 2002 auf Werbeplakaten oder 2022 auf Social Media, die Versprechungen auf Selbstverwirklichung bleiben dieselben. Sie verstecken sich lediglich unter anderen Deckmänteln als Heilsbotschaften für die ewigen Sinnkrisen der Zeit, die sich offenbar gar nicht so sehr verändern. Bereichert, aber ohne klare Antworten, verlassen die Zuschauenden noch immer heiter den Saal. Eines lässt sich jedoch mitnehmen: Auf der Jagd nach dem Sinn sind achtsame Pausen wichtig, um bewusst einen nie endenden Marathonlauf zu verhindern.

Header- und Vorschaufoto: © Ast/Juergens, lit.COLOGNE