Stellwerk Magazin

Rezension Der Menschenfeind

Vorwort

Regisseur Moritz Sostmann bringt erneut Puppen auf die große Bühne des Schauspiel Köln. DER MENSCHENFEIND wird noch bis zum 28. Februar 2015 aufgeführt. Zeit nun ein Fazit zu ziehen. Nach seinen beiden vorherigen Inszenierungen mit Puppen am Schauspiel Köln – DER GUTE MENSCH VON SEZUAN und AMERIKA – lässt er nun die Pariser Gesellschaft des 17. Jahrhunderts über die Bühne tanzen… Staub, der von der Decke rieselt, ein verrückt gewordener Clown, der mit einer Axt das Mobiliar zertrümmert, ein bebendes Depot 2, das am Ende des Abends in Schutt und Asche liegt: Moritz Sostmanns Inszenierung von Molières Komödie DER MENSCHENFEIND lässt keinen Stein auf dem anderen und keinen eindrucksvollen Effekt aus.

Im Paris des 17. Jahrhunderts besteht das gesellschaftliche Leben vornehmlich aus Höflichkeitskonventionen und Etikette, stets darauf bedacht, den bon goût, den "guten Geschmack" zu wahren. Der Idealist Alceste sagt sich von diesen adeligen Konventionen los, um ihnen ein Leben ohne Heuchelei vorzuziehen. Seine unbedingte Ehrlichkeit bringt ihn dabei an persönliche und gesellschaftliche Grenzen, mehr und mehr sondert er sich von seinen Freunden ab und entwickelt sich zu einem charakterlich gespaltenen und von einsamen Wertvorstellungen geleiteten Misanthropen, einem Menschenfeind, der am Ende gar sich selbst hasst.

Schon das Bühnenbild Christian Becks macht Eindruck: ein überdimensionaler Esstisch mit riesigen Stühlen, eine dekorativ darüber hängende Fischgräte und ein Kronleuchter, der manch bourgeoisen Haushalt vor Neid erblassen ließe. Die beiden Clowns, die nun die Bühne betreten, wirken vor dieser Kulisse unbeholfen, klein, puppenhaft. Alceste, gekleidet in ein barockes Kostüm, ist der Weißclown und verkörpert in seinem gesamten Auftreten den intellektuellen Schöngeist. Eine aufgemalte Träne auf der Wange stellt seine Betroffenheit über die verkommene Gesellschaft zur Schau. Der dumme August, Alcestes lebensfroher Freund Philinte, preist diesen zu Beginn der Vorstellung an: "Der Weißclown ist das, was man sein sollte.“ Er erscheint somit als das Vorbildliche, das moralisch Gute. Ganz konträr zu dieser Lobrede steht das, was Alceste über seinen Konterpart zu sagen hat: "August ist, was er ist.“

Ein grimmiger Alceste, verkörpert von Benjamin Höppner, philosophiert über die Verkommenheit der Menschheit: "Die Menschen sind doch nicht zu ertragen. Ich könnte sie erschlagen." Der dumme August hingegen in tiefer Gelassenheit und in seiner Reaktion gar nicht so dumm: "Man muss die Menschen nehmen, wie sie sind.“ Denn Philinte ist eher ein Menschenfreund, er begegnet allen meist großzügig und mit Nachsicht. Damit bedient sich Sostmann hier eines eingängigen Stilmittels: auch im Zirkus sind die Sympathien der Zuschauer eher bei dem warmherzigen Tölpel als beim ernsten Weißclown. Und wie im Zirkus haben die beiden die Lacher der Zuschauer auf ihrer Seite. Insbesondere das überdimensionale Dinner mit Weingläsern, die halb so groß sind wie die daraus Trinkenden, amüsiert das Publikum im Depot 2.

Die erste echte Puppe betritt nun das Geschehen. Wie schon ihn Sostmanns vorherigen Stücken DER GUTE MENSCH VON SEZUAN und AMERIKA spielen die eigens von Hagen Tilp für diese Inszenierung gebauten Puppen eine gewichtige Rolle. Die menschliche Mimik und ihre Bewegung, die ihnen nur durch drei Puppenspieler ermöglicht wird, verleihen den Puppen eine anrührende Verletzlichkeit und lassen sie für die Zuschauer beinahe menschlicher erscheinen als die beiden von menschlichen Schauspielern verkörperten Figuren. Man ist geneigt, ihnen all ihre Verfehlungen und Obszönitäten zu verzeihen. "Puppen lassen sich leichter liebhaben“, erklärt auch Moritz Sostmann. So verhält es sich auch bei der Puppe Oronte, wenn diese ein selbstverfasstes Gedicht vorträgt. Alceste hingegen erklärt Oronte in harschen Worten, was er von seiner stümperhaften Arbeit hält. Doch Alcestes Vorhaben, die Welt nach seinen Idealen zu verändern, scheint hier zum ersten Mal nicht mehr zu gelingen. Oronte reagiert zornig und bringt den Menschenfeind für seine Unfreundlichkeiten vor Gericht.

Dann die nächste Puppe: die hübsche Célimène an der Hand einer großartigen Magda Lena Schlott. Molières Célimène kokettiert mit vielen Männern und stiftet dadurch nicht zuletzt zwischen Alceste und Oronte Unmut. In einer wirren Szene, in der sie, geführt von ihrer Puppenspielerin, mit Tüchern behangene Clowns bemalt, wird doch eines klar: Alceste ist Célimène verfallen. Nur sie darf mit ihm machen, was sonst wohl keiner darf. Dabei kennt sie ihren Verehrer besser als die meisten. "Denn das, was wir denken, das denkt er gerade nicht!" In Gegenwart einer klatsch-freudigen Runde aus Acaste, Citandre und Éliante enthüllt Célimène eine vermeintliche Facette von Alcestes Menschenhass. Und dann wird auch der Misanthrop für einen Moment zur leblosen Puppe: geführt von den drei Puppenspielern bringt er seine Gedanken über die vergnügungssüchtige Pariser Société auf den Punkt. An seine Spötter gewandt, fragt er: "Na, findet ihr mich jetzt endlich auch mal amüsant?“ Doch Alceste unterliegt höchstens einer unweigerlichen Komik.

Während Menschen wie Puppen beinahe durchweg rote Clownsnasen tragen und das ein oder andere fast schon ordinäre Schauspiel zum Besten geben (beispielsweise als sie spuckend und singend über Alceste herziehen), bleiben Alceste nur die hochgezogenen Augenbrauen, der Hass, der ihm alsbald wortwörtlich auf der Stirn steht und ein Mund, der sich im Laufe des Stücks immer mehr zur jokerhaften Fratze verzieht. Mit der Mimik Alcestes verfinstert sich auch sein Verhalten. Nachdem er von einem Tête-à-Tête zwischen Oronte und seiner Célimène erfahren hat, schlägt er mit der Axt alles kurz und klein. Spätestens nach der Pause sieht sich der Zuschauer einem gänzlich verwüsteten Bühnenbild gegenüber. Szenen, in denen Alceste sich und Célimène mit Spiritus übergießt und sich eine ängstliche Partygesellschaft unter dem umgestürzten Tisch verkriecht, werden durchzogen von einigen konstrastreichen, komischen Elementen. Als Alceste etwa die Vorhänge des Depots herunterreißt, sitzen dahinter zwei verwirrte Lichttechniker und eine aufgebrachte Magda Lena Schlott wünscht mitten im chaotischen Treiben einem Zuschauer "Gesundheit".

Am Ende steht beinahe alles wie am Anfang, nur anders: Alceste, der Weißclown und Menschenfeind, und Philinte, der dumme August und Menschenfreund, stehen sich gegenüber. Alceste sieht für sich nur einen Ausweg: den Rückzug in die Einsamkeit, weg von den Menschen, von denen er so sehr enttäuscht ist –

"Ich bin von so viel Niedertracht umgeben, hier kann ich nicht leben.“ - "Damit setzen sie sich selber matt.“

In der Antwort Philintes steckt alles, was die Inszenierung ausmacht. Ursprünglich vom Gutmenschentum beseelt, kann Alceste weder sich noch anderen gegenüber nachsichtig sein. Als selbstherrlicher Narzisst und Egoist gelingt es ihm nur, treu Ergebene zu verletzten und sich selbst von ihrer Gunst zu lösen. So wählt auch Éliante, die eigentlich in Alceste verliebt war, am Ende Philinte. Dieser setzt ihr die rote Clownsnase auf und verspricht, sie für immer zu lieben. Diese Zuneigung kann Alceste nicht mehr zuteilwerden. Mit weit aufgerissenen Augen steht die gehobene, clownsnäsige Gesellschaft am Rande der Bühne: "Wir sollten ihm nach, wenn wir ihn lieben! Wir sind die einzigen Freunde, die ihm blieben.“

Was bleibt, ist ein amüsanter Abend. Sostmann versteht es, keine Langeweile aufkommen zu lassen. Doch zwischen all der Clownerie, den Verfolgungsjagden, Gesangseinlagen und der Zerstörungswut verschwimmen Molières Motive – die Zerrissenheit zwischen Idealismus und Realismus sowie die alles verzehrende und beinahe alles überwindende Liebe Alcestes zu Célimène. Die Komödie bleibt, das Gesellschaftsdrama geht im Chaos verloren. Intelligenter Witz hätte der Inszenierung an der ein oder anderen Stelle besser getan, als plumpes Gebaren und ein zorniger Protagonist, der seinen Gemütszustand lediglich durch Lautstärke und Klamauk auszudrücken imstande scheint. Verständnis für den brutalen, beinahe grausamen Misanthropen kommt beim Zuschauer nicht auf. Dem Clown im barocken weißen Gewand fehlt schlicht das Sympathische, wo Molières Alceste Zuneigung zuteil wird. Philinte bezeugt ihm ehrliche Freundschaft, und die Damen der Oberschicht sind dem "Mann mit Grundsätzen" durchaus zugetan. Hier vermisst man ein paar sensiblere Szenen. Während Puppen und Bühnenbild durch ihre Zurückhaltung glänzen, wirkt vor allem das Finale zu laut, zu aufdringlich, zu überladen. Sostmanns Einfallsreichtum überfordert hier. In einer Zeit, in der sich so manch einer noch immer wiederfindet, hin und her gerissen zwischen eigenen Moralgrundsätzen und dem Unverständnis einer Gesellschaft, die diesen Moralgrundsätzen oft nicht gerecht werden kann, hätte der Inszenierung ein bisschen mehr Ernsthaftigkeit nicht geschadet.

Foto: David Baltzer | Schauspiel Köln

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