Stellwerk Magazin

Ein Nachbericht Lyrische Stolpersteine

Vorwort

Die Lesung mit Tom Schulz fand am 20. Juni 2017 in der Galerie Priska Pasquer in der Kölner Innenstadt statt. Die Veranstalter des Abends waren Prof. Dr. Christof Hamann vom Institut für Deutsche Sprache und Literatur I an der Universität zu Köln, sowie Klaus Bittner, der Inhaber der Buchhandlung Bittner. Zu Beginn sprach Klaus Bittner einige einführende Worte, daraufhin folgten noch einige Worte zum Veranstaltungsort und der dort zurzeit ausgestellten Kunstsammlung. Die Moderation des Abends übernahm Alexander Weinstock, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Deutsche Sprache und Literatur I. Der Abend war in drei Blöcke unterteilt, die jeweils mit Lesungen eingeführt wurden, denen sich anschließend kurze Diskussionen anschlossen.

In seinem politischen Gedichtband „Die Verlegung der Stolpersteine“, der Februar 2017 im Hansa Verlag Berlin erschienen ist, thematisiert Tom Schulz die stets komplexe Gedächtnisarbeit. Dabei bedient er sich seiner Erinnerungen an die Jugend in der DDR, Erinnerungen seiner Großmutter und aktueller politischer Themen, wie die Pegida-Aufmärsche. Die Schauplätze seiner Gedichte sind Deutschland, Litauen und Mexico; Orte, die er auf literarischen Reisen kennengelernt hat. Zu Beginn im ersten Block las Tom Schulz fünf Gedichte aus seinem Band „Die Verlegung der Stolpersteine“ vor – „Rodung eines Parks“, „Heimland“, „Die Verlegung der Stolpersteine“ und „Die Menschenfabrik“. Zunächst wurde näher auf den Begriff „Stolpern“ eingegangen. Das Stolpern als ein kurzer Moment des Innehaltens, der Aufmerksamkeit und des Bewusstwerdens. Inwiefern kann man das Stolpern als eine Chance sehen, einen Hoffnungsschimmer?

Aus seinen vielen Gedichten hat Tom Schulz den Gedichttitel „Die Verlegung der Stolpersteine“ zum Titel seines Buchen gemacht, weil dieser die Thematik des gesamten Gedichtzyklus’ am Besten verbildlicht. Nicht nur metaphorisch, sondern auch tatsächlich wollen die Stolpersteine auf die Geschichte der verfolgten Juden im Dritten Reich aufmerksam machen und dafür sorgen, dass diese Erinnerungen nicht in Vergessenheit geraten. Gleichzeitig symbolisieren sie eine Klage. Schulz sagt, dass er mit seinen Gedichten Beteiligung schaffen will, Auseinandersetzung und Verarbeitung. Gerade für die Generationen, die mit dem Krieg nichts mehr zu tun haben und Geschichten nur von ihren Großeltern oder aus dem Museum kennen, möchte Schulz seine eigenen Erinnerungen verschriftlichen. Neben Politik und Geschichte aus den 30er und 40er Jahren, setzt er sich auch mit aktueller Politik aus Berlin auseinander und möchte die Menschen mitreißen, so Schulz selber. Das Stolpern kann auch als Poetologie seines Gedichtbandes verstanden werden. Die Gedichte dienen als poetischer Speicher der Erinnerung, so Schulz. Das Gespräch kam anschließend auf sein Gedicht „Prager Straße“ zu sprechen, anhand dessen Schulz noch mal betont, wie der Gedichtzyklus funktioniert. „Prager Straße“ schrieb Schulz aus seiner biografischen Erinnerung heraus. In dem Gedicht mischen sich drei Zeitebenen: das historische Ereignis der Bombenangriffe auf Dresden ab 1944, die Erinnerungen seiner Kindheit und das Jetzt der Gegenwart. Eine weitere Funktion der Gedichte und ihrer Aufgabe des Mitreißens, so Schulz, sei das Aufmerksam machen auf den Feind der Demokratie.

Block II

Tom Schulz wurde 1970 in der Oberlausitz geboren. Er lebt als freier Autor, Herausgeber und Dozent für Kreatives Schreiben in Berlin. Für seine Werke hat er viele Auszeichnungen und Stipendien bekommen, darunter unter anderem den Kunstpreis Literatur der Lotto-Stiftung Brandenburg 2013, den Alfred-Gruber-Preis 2014 und zuletzt den Liechtenstein-Preis für Lyrik 2016.

Im zweiten Block der Veranstaltung wurden gelesen: „Zweiter Stolperstein“, „Siebter Stolperstein“, „Buñuel in Mexico City“, „Gottes Finger“, „Die Seekriegsfahrer“ und „Sor Juana und das Licht“. Die Inspiration für die Gedichte des dritten Kapitels „Mexikanische Strophen“ fand Schulz bei einer Reise durch Mexico. Als Reisender, so Schulz, konnte er das Touristische abwerfen und eine uneingeschränkte Perspektive erleben. Ihn inspirierte an dem Land unter anderem die politische Situation, er beschrieb Mexico als eine „leidende Nation“ und seine Eindrücke wolle er in seinem Gedichtband aufschreiben, um, wie auch bei den anderen Gedichten, ein Mitreißen und Mitfühlen zu bewirken. Seine Gedichte und Perspektiven sollen gleichzeitig Vorurteile beseitigen, wie man auch in „Buñuel in Mexico City“ lesen kann: „Es stimmt nicht, dass die meisten Mexikaner komische Hüte tragen.“

Anschließend stellte Alexander Weinstock die Frage nach dem „lyrischen Wir“ in „Siebter Stolperstein“. Wer ist mit dem „Wir“ gemeint? Von einem „lyrischen Wir“ zu sprechen sei immer schwierig, so Schulz. Ein „Wir“ im Sinne einer Gemeinschaft ist immer konstruiert. So muss dem Leser erst einmal klar werden, wer mit dem „Wir“, welche Gruppe von Menschen, gemeint sei. Ein „lyrisches Wir“ verleitet dazu, dass man sich der bezeichneten Gruppe zugehörig fühlt, auch wenn die Gruppe nur metaphorisch zu verstehen sei. Allerdings sind dies voreilige Schlüsse, denn weder der Leser noch der Autor ist automatisch Teil des „Wir“. Bei politischer Lyrik ist dieser Effekt der Zugehörigkeit gewollt und daher auch so zu verstehen. Gerade bei politischer Literatur könne man, so Schulz, von einem lyrischen Wir sprechen, denn der Dichter möchte ja gerade, dass sich die Leser in die Gedichte hineindenken und -fühlen. Abschließend zu diesem Block kam die Frage auf, was politische Lyrik eigentlich ausmacht. Klassische politische Gedichte gibt es nach Schulz nicht mehr. Er beharrt darauf, dass die Postmoderne überwunden werden muss, und fordert, dass wir mehr Feldforschung brauchen und mehr direktere Gedichte, wenn es um das lyrische Darstellen und die lyrische Auseinandersetzung mit Politik geht.

Block III

Im letzten Block wurden die beiden Gedichte „Die Wolken über Sasel“ und „Die Kühe am Atomkraftwerk“ gelesen. Diese beiden Gedichte thematisieren die Atompolitik. Besonders das Gedicht „Die Kühe am Atomkraftwerk“ ist lyrisch stark formuliert und passt in die aktuelle Debatte. Zu diesem letzten Block gab es keine Diskussion mehr, die Worte blieben erst einmal im Raum stehen und die Zuhörer hatten die Möglichkeit, ihren eigenen Gedanken nachzuhängen. Politik und Lyrik kombiniert im Rahmen eines gelungenen Abends. Sowohl die gute Organisation des Abends überzeugt, als auch Tom Schulz in seiner sympathischen Art, der als talentierter Dichter weiß, wie er das Publikum an seinen Gedanken und Erinnerungen teilhaben lässt. Durch seine Worte schafft er es, Erinnerungen zu wecken, und sowohl die politische Situation im Krieg und der DDR, als auch das aktuelle Geschehen zu reflektieren und aus einem andern Blickwinkel zu betrachten. Die kurzen Diskussionen waren sehr interessant und lieferten gute Denkanstöße. Schulz’ Ziel, mit politischer Lyrik einen poetischen Raum für Erinnerungen zu schaffen, sowie die Leser mitzureißen, hat er an diesem Abend auf bemerkenswerte Art gemeistert.