Stellwerk Magazin

POETICA 5 Die „Poetica 5“ hebt ab

Vorwort

Angeregte Zustände – Lesung und Gespräch mit Aris Fioretos, Mircea Cărtărescu und Christian Kracht in der Stadtbibliothek in Köln. Die Schriftstellerin Agi Mishol musste ihre Teilnahme leider kurzfristig absagen.

© Silviu Guiman

Draußen, im gelben Licht der Laternen fiel sanft Schnee, während sich der Saal der Zentralbibliothek der Stadt Köln langsam füllte. Geborgen hinter den Glaswänden hatte sich gestern Abend ein kleines Publikum versammelt und wartete nur noch auf das Startsignal von Kapitän Aris Fioretos, dem diesjährigen Kurator des Festivals für Weltliteratur, der Poetica. Seine Crew bestand aus den Autoren Christian Kracht (Schweiz) und Mircea Cărtărescu (Rumänien), mit denen er in den nächsten anderthalb Stunden über die „angeregten Zustände“, die den Literaturschaffenden eigen sind, sprechen wollte. Doch bevor Fioretos selbst-betiteltes „Raumschiff Poetica“ abheben konnte, musste der schwedische Autor noch eine traurige Nachricht verkünden: Die Autorin Agi Mishol aus Israel konnte an diesem Abend nicht teilnehmen, „sie stolperte, fiel eine Treppe hinunter und hat nun leider den Arm in Gips.“

„Poetry is a way of seeing life“

Das Gespräch begann mit Mircea Cărtărescu. Der Rumäne beschrieb seine Wahrnehmungshaltung als Autor. Entscheidend ist für ihn dabei, wie der Dichter der Welt begegnet und erst in zweiter Linie das, was er erschafft: „Du solltest keine Verse schreiben, um Dichter zu sein. Ich denke, die größten Dichter, die uns umgeben, haben niemals Gedichte geschrieben.“ Durch dieses vermeintliche Paradox wurde klar, was Cărtărescu unter dem „angeregten Zustand“ des Schreibens versteht: Der Welt offen begegnen, die „Dichtkunst als Weg die Welt zu sehen“ verstehen. So verwies er in der Folge auf den Chicagoer Hausmeister Henry Darger, der, ohne jemals an eine Veröffentlichung zu denken, ein immenses Werk hinterlassen hatte, das er nur für sich selbst geschrieben hatte. Cărtărescu versucht, diesen Zustand durch einen kindlichen Blick auf die Welt zu bewahren.

Schreiben als Zustand unklarer Voraussicht

Im folgenden Teil des Gesprächs wäre es sicherlich interessant gewesen, Agi Mishol und Cărtărescu im Gespräch zu erleben, da sich ihre Vorstellungen vom Zustand des Schreibens durchaus ähneln. In ihrem Text Ein Gedicht schreiben erklärt Mishol, dass es für das Schreiben eines Zustands des „Dösens und Starrens“1Mishol, Agi: Ein Gedicht schreiben. In: Texte zur Poetica 5, 2019. bedarf, in dem man „entspannt und gespannt zugleich“ ungewollt wollen muss. Erst dann ist der Eintritt in einen Zwischenraum möglich. Als Cărtărescu über sein Notizbuch sprach, kristallisierte sich auch bei ihm die Notwendigkeit eines solchen, offenen Zustands heraus, der ihm das Schreiben ermöglicht: „Ich weiß nie, was ich auf der nächsten Seite schreiben werde, selbst in der Mitte des Buchs nicht.“ Besonders wichtig ist für ihn dabei das Schreiben von Hand, um diese schöpferische Haltung aufrechtzuerhalten: „Durch das Schreiben mit der Hand, schaffe ich eine Distanz zwischen mir und dem, was ich in der nahen Zukunft machen werde.“ Schreiben als klarer, konzentrierter Rausch im Zwischenraum.

Mircea Cărtărescu, Aris Fioretos und Christian Kracht

Vom Stehlen und vom Schreiben

In der zweiten Hälfte des Abends wechselte das Gespräch zum Schweizer Autor Christian Kracht. Wenn auch nicht als Antwort auf die Frage, was es denn mit den fantastischen Orten der Literatur auf sich habe, so doch ganz angetan vom Schneefall, der dem Autor in seiner derzeitigen Wahlheimat Kalifonien wohl eher seltener begegnet, zitierte Kracht das Ende von James Joyces The Dead. Interessant ist dieses Zitat auch in Hinblick auf Krachts weitere Äußerungen zum Schreiben. Er schloss sich zunächst Cărtărescus Methode an: „Ich habe dieselbe Technik, nicht zu wissen, wohin die nächste Seite mich oder den Protagonisten führen wird. Ich schreibe ohne Plan und ohne Struktur.“ Was man dem Schweizer, der danach passenderweise das Ende seines jüngsten Romans Die Toten auf Englisch vorlas, nicht so recht glauben mag. Oder soll das Zitat vom Titel des irischen Schriftstellers etwa Zufall gewesen sein? Darauf folgte auch sein Eingeständnis, ein „literarischer Dieb“ zu sein: „Ich bin jetzt schon länger ein Dieb. Manche Diebstähle sind erfolgreicher, manche besser versteckt und andere wiederum sehr offensichtlich.“ Diese Feststellung, die er mit einer amüsanten Anekdote aus seiner Schulzeit unterfütterte, machte schon eher deutlich, welche Form des Schreibens er pflegt: in der Grundschule hatten die Schüler ein Gedicht verfassen müssen, der kleine Kracht, unfähig dazu, kopierte kurzerhand einen Beatles-Text und erhielt das Lob der wohlwollenden Lehrerin. Krachts „strukturlose Methode“ darf in Hinblick auf seine Werke, die im höchstem Maße mit Zitaten und versteckten Verweisen auf andere Werke arbeiten, daher eher angezweifelt werden.

Natürlich Liebling, aber ist das Kunst?

Wie schon bei der Auftaktveranstaltung am Montag, nahmen die zuweilen recht offenen Fragen des ansonsten aufmerksamen und souveränen Moderators oft schon mögliche Antworten vorweg und ließen die Gesprächsteilnehmer kurzzeitig sprachlos zurück. „Das ist wirklich eine mächtige (heavy) Frage!“, entgegnete Kracht auf die Nachfrage Fioretos zum Motiv des Projektors: „Auf eine Weise ist das doch Schönheit, die nicht nach dem Warum fragt. Der man nur schwer eine Bedeutung beimessen kann. Die rein und voller Gewicht ist. Die aber nicht notwendigerweise sich oder eine Übertragung von ihr zu Inhalt führt – ist das die reine Kunst?“ Nach kurzem Überlegen gab es eine für Kracht scheinbar typisch widersprüchliche Antwort. Seiner Feststellung, „Dinge, die aus dem Nichts entstehen, tendieren dazu, Dichtkunst zu werden“, entzog er durch das Zitieren des Albumtitels der Punkband Television Personalities kurzerhand wieder den Boden: „Yes darling, but is it art?“

Der gestrige Flugabschnitt des Raumschiffs Poetica 5 endete schließlich sehr versöhnlich. Nachdem die Autoren herausfanden, bei Filmen ganz ähnlich nah am Wasser gebaut zu sein und sich auch in der Frage nach ihrem Lieblingsbeatle nicht in die Quere zu kommen, hatte das mitreisende Publikum im Anschluss die Möglichkeit, ein paar Worte mit den Poetica-Piloten zu wechseln, bevor es hinaus in die mit Schnee überzogene Stadt ging.

Fotos: © Silviu Guiman